"Mensch, das kann's nicht gewesen sein!"

■ Olympiasieger Dieter Baumann über seine Zukunft, die der Leichtathletik - und Leute, die ihn Ex-Olympiasieger nennen

Herr Baumann, selbst Ihr Hausblatt „Stuttgarter Zeitung“ führt Sie despektierlich nur noch als „Ex-Olympiasieger“.

Dieter Baumann: Das führe ich auf einen Druckfehler zurück. Mir ist es eigentlich Wurscht, wie mich die Leute bezeichnen. Ich habe mich allerdings aufklären lassen, daß es nur Olympiasieger gibt, keine Ex-Olympiasieger. Man kann mich aber gerne auch nur Dieter Baumann nennen.

Vielleicht ändert sich irgend etwas, wenn man in die neue Saison nicht mehr als der amtierende Olympiasieger geht?

Für mich hat sich nichts geändert. Man muß schon das Gesamte sehen, von 1988 angefangen bis heute: Ich war Zweiter, dann Erster, jetzt Vierter. Das ist vom Niveau her so hoch, das sind nur Schönheitskorrekturen für mich als Athlet. Natürlich sieht das die Öffentlichkeit anders. Da zählt nur der Sieg. Ich kann das jetzt vielleicht am besten beurteilen, denn ich habe einmal gewonnen und war das andere Mal Vierter, und jedesmal waren es ganz andere Reaktionen in der Öffentlichkeit. Ich habe gemerkt, daß es in Deutschland in der Tat nur der Sieg ist, der zählt.

Tut das nicht weh? Es gemahnt an die Vergänglichkeit allen Tuns.

Man darf ja sein sportliches Tun nicht nur von dem abhängig machen, was die Öffentlichkeit sagt. Für mich waren die letzten acht Jahre enorm toll. Was ich erlebt habe, auch hinsichtlich Emotionen in Sieg und Niederlage..., den vierten Platz werte ich eigentlich auch wie einen Sieg. Denn nach der WM in Göteborg 1995 war ich doch in einer kritischen Situation. Irgendwie hat man vielleicht von außen nicht mehr geglaubt, daß ich noch so mitmischen kann, und es hat ja dann nicht viel gefehlt. Da spielt es für mich keine Rolle, ob ich damit nun der nicht mehr amtierende Olympiasieger bin. Mein Standard ist aus meiner Sicht exakt der gleiche geblieben.

Was kann die sportliche Zukunft dem noch bieten, der schon Olympiasieger ist?

Ich muß ganz ehrlich sagen: Mir macht es unheimlich Spaß. Mir machen die Wettkämpfe Spaß. Mir macht der Weg zu den Wettkämpfen Spaß. Ob das Trainingslager sind, die Reisen, die damit verbunden sind..., und ich habe auch noch Ziele. Ich bin noch nicht gesättigt. Ich habe das Gefühl, ich kann mich verbessern. Ich habe das Gefühl, auf den 5.000 Metern noch nicht mein Limit erreicht zu haben.

In Atlanta sagten Sie: Ich habe mich als Läufer noch nicht vollendet.

Ja, ich sag' mal so, das trifft's vielleicht besser. Mein Ego ist noch nicht so befriedigt, wie ich mir das vorstelle. Da lechzt noch irgend etwas in mir, da flammt etwas, da sagt etwas: Mensch, das kann's noch nicht gewesen sein! Solange ich diese Flamme spüre, solange ich merke, ich bin noch high, sehe ich keine Veranlassung, aufzuhören, obwohl ich schon viel erreicht habe. Die Frage stelle ich mir nicht. Ich stelle mir die Frage: Was kann ich jetzt erreichen, wenn ich jetzt bei Null anfange? Wo ist das nächste Ziel? So sehe ich meine Situation. Ich schaue nicht zurück, ich schaue nach vorn.

Was sehen Sie?

Ich kann 1998 noch mal Europameister werden. Ich kann mir eine Zielsetzung bis Sydney 2000 aufbauen. Ich kann Rekorde brechen. Der Europarekord ist nicht einmal eine Sekunde von meiner Bestzeit weg [13.01,72 min; d. Red.]. Das wäre vielleicht eine Vollendung. Viele sagen: Mensch, wenn du den hast, kannst du aufhören. Es gibt gewisse Dinge, die in meinem Bild noch fehlen. Ohne daß ich sie bräuchte. Diese Dinge sind nicht lebensnotwendig, die sind nur so... das I-Tüpfele. Vielleicht noch ein Pinselstrich. Ich könnt' nicht mal sagen, welcher Pinselstrich es ist. Ich glaube, das muß man probieren.

Atlanta hätte ein prägnanterer Pinselstrich sein können?

Sicher, wenn man im Gesamtbild bleibt, wär das ein Pinselstrich gewesen. Aber ich habe ihn nicht gemacht. Man muß mit so kleinen Einbuchtungen ... leben, mit Wünschen, die nicht in Erfüllung gegangen sind.

Sie pflegen Ihre Rennen im Kopf nachzubereiten. Immer wieder. Zielgerade Atlanta, Antritt Baumann ...

... dann ein anderer Ausgang?

Ja.

Ja, danach bin ich es öfter gelaufen. Je frischer das Rennen ist, um so öfter geht man es durch und versucht irgendwo etwas zu erhaschen, wo man denkt... es waren ja zum dritten Platz nur drei Zehntel. Was sind drei Zehntel? Das sind diese paar Meter... über 5.000 Meter ist das gar nichts. Dann lauf ich auch über die Linie und denke: Menschenskind, das gibt's doch nicht! Aber das gibt's eben doch. Natürlich fragt man sich: Wo war der Haken? Wo habe ich gepennt?

Einige Experten hatten Ihnen schon 1996 keine Chance mehr gegeben. Wie wird das heuer?

Man muß unterscheiden zwischen den Zeiten bei Meisterschaften und bei den Grand Prix Meetings. Da gibt es keine Hasen, da gibt es taktische Rennen. Und das macht mir Mut. Denn das zeigt mir: Da hab ich meine Chance.

Gebreselasies Weltrekord steht bei 12:44,39 min. Die Zeitenentwicklung im 5.000-m-Lauf ...

...mag für Außenstehende dramatisch sein. Für mich ist es nicht so, daß ich denke, es ist unerreichbar. Ich habe das Gefühl, ich habe Kontakt. Ich lauf' ja mit. Die sind nicht übermenschlich. Solange ich den Eindruck habe, ich kann mich verbessern, reicht mir das. Vielleicht kann ich die Lücke kleiner machen. Ich hatte sie eh nie geschlossen. Ich war immer sehr weit weg vom Weltrekord, egal wo der war. Ich bin kein Rekordläufer. Die Frage hat sich für mich nie gestellt, daher hat sie mich auch nicht belastet.

Die Marketingstrategie der Lauffirma Baumann basierte auf Baumann-Siegen. Geht das jetzt noch?

Ich seh mich schon als Siegläufer. Wenn ich den Eindruck nicht hätte, ich habe die Chance, Rennen zu gewinnen, egal wie und egal wo, dann wäre meine Motivation sehr viel geringer.

Bei Golden-Four-Meetings wie in Zürich wird nicht auf Sieg gelaufen.

Da weiß ich natürlich, daß ich ein Rennen nicht gewinnen kann, wenn man auf Weltrekord geht. Aber bei Meisterschaften bilde ich mir schon ein, um den Sieg zu laufen. Aber die Chance ist natürlich geringer, als vor vier oder acht Jahren, weil die Konkurrenz größer geworden ist.

Als Baumann das Maß war, galt auch ein EM-Sieg in 13.25min als Heldentat. Könnte 1998 gleiches mit: ja gut, aber... quittiert werden?

Das glaube ich nicht. Ich glaube auch nicht, daß die Leute alles nach dem Weltrekord auslegen. Es gibt so viele Meetings, die das widerlegen. Der Zuschauer im Stadion kann nicht ermessen, ob wir jetzt 12.50 min laufen, 13.00 min oder 13.10 min. Ein Rennen ist ein Rennen. Es stimmt nicht, daß die Leute nur Weltrekord sehen wollen. Sie wollen ein schönes Rennen sehen.

Den Gedanken an Flucht, die Marathonpläne, haben Sie abgehakt.

Die Frage war: Schließt man mit seinem Event ab? Ist es das gewesen? Da war die Erkenntnis: Nee. Wir wollen vom Training einiges verändern, aber trotzdem versuchen, meine Bestzeit in den nächsten zwei Jahren in irgendeiner Form zu verbessern. Und die EM als Abschluß verwenden.

Ist das der Sinn des Lebens? Immer noch schneller zu laufen?

Nein. Ich glaube nicht, daß das der Sinn des Lebens ist. Es ist eine Aufgabe. Das ist etwas anderes.

Es gibt keine andere Aufgabe, die einen ähnlich großen Reiz ausüben würde?

Ja, genau. Aber das wechselt ja. Mein Leben ist sehr jung. Ich hoffe doch, daß es im Leben mehrere Aufgaben gibt, denen man sich stellt. Die man dann bewältigt – oder auch nicht. Scheitern wäre für mich kein Debakel. Es ist einfach einen Versuch wert. Ich hoffe, es wird in meinem Leben noch mehrere Versuche geben, die nix mit dem Laufen zu tun haben, aber es wert sind, sie mit dem gleichen Elan anzugehen.

Wenn einer fragt: Was machst du später, haben die meisten keine Ahnung. Ein Olympiasieger...

...müßte eine Antwort haben, ja ja. Nach wie vor sehe ich mich als Athlet. Das mag blöd klingen: Aber eigentlich mehr denn je. Die nächsten zwei Jahre stelle ich mir gar nichts vor. Ich werde laufen. Ich werde trainieren. Wahrscheinlich mehr, als ich je trainiert habe. Dann werde ich sehen, was dabei herauskommt. Das andere interessiert mich nicht. Ich versuche so wenig wie möglich nach links oder rechts, vorn oder hinten zu schauen. Ich lebe in der Gegenwart. Das reicht mir.

Was wird einmal aus der Medienfigur Baumann? Bleibt die erhalten?

Noch bin ich Athlet und kann dieses Bedürfnis stillen, wenn es denn eins sein sollte. Aber ich bin keiner, der ins Fernsehen geht, um sein Gesicht zu präsentieren.

Was hätten Sie beizutragen zu Kastrationen bei Haustieren oder ähnlichen Themen?

Nichts.

Nach Jahren der Individualisierung versuchen Sie es mit Internationalisierung. Zuletzt haben Sie in Kenia mit Moses Kiptanuis Läufergruppe trainiert. Ist das eine Distanzierung vom Deutschen Leichtathletik-Verband?

Nein. Ich glaube sogar, in den Zeiten größerer Konkurrenz sind wir auf Teams angewiesen, auf Zusammenarbeit. Der DLV hat die Strukturen, die man braucht. Allein wird es nie einer schaffen. Man muß vielleicht das, was man hat, modifizieren. Schlanker machen, würden Wirtschaftsstrategen sagen. Es braucht schnellere Entscheidungen, mehr Mitsprache der Trainer und Athleten in den Gremien des Verbandes.

Sie meinen grundsätzlich? Sie selbst setzen sich ab?

Ich stecke ja in dem Dilemma: Wenn ich auf die Veränderungen warte, die ich angesprochen habe, bin ich nicht mehr Athlet.

Könnte es auf diesem Niveau mit einer nationalen Läufergruppe funktionieren?

Ja. Wir hätten das Läufer-Potential. Aber durch die Individualisierung sind wirklich nur noch Einzelkämpfer übriggeblieben. Man muß aufeinander zugehen. Natürlich kann ich darauf hinarbeiten, aber warten kann ich darauf nicht. Ich muß mir eine Truppe suchen, wo ich jetzt, morgen und übermorgen trainieren kann.

Es macht keinen Spaß mehr, allein durch den Wald zu rennen?

In erster Linie hat das nichts mit Spaß zu tun. Die Frage ist: Bringt mir das was? Ich denke, daß eine Gruppe mehr Leistung bringt, als allein zu trainieren. Es macht mir nichts aus, allein zu laufen. Aber ich teile auch gerne den Spaß mit denen, die mitlaufen. Das erhöht die Freude.

Sind internationale Sponsoren- Teams die Zukunft?

Es gibt diese Gruppen. Kim McDonald hat eine, Jos Hermens [beide sind Manager diverser Top- Leichtathleten; d. Red.] eine andere. Es ist nur eine Frage der Zeit, daß Hermens einen Hauptsponsor findet. Die klatschen sich das Logo aufs Trikot wie bei den Radfahrern: Telekom, Once, Banesto. Die Manager nehmen ja längst Einfluß auf Wettkampfgestaltung. Je mehr Teams es gibt, desto größeren Einfluß werden die haben.

Was wird aus der deutschen Vereins- und Verbandsstruktur?

Ich sehe Gefahren für die Verbandsstrukturen, wenn man glaubt, es sei alles ganz toll, und es beim alten beläßt.

Wer wird den Nachwuchs heranziehen? Ihr Ausrüster Asics?

Das interessiert ja die Radteams auch nicht. Der Sport hinkt im Moment hinter der Entwicklung her in einem sich globalisierenden Markt. Ich glaube, daß man im Sport immer noch zu national denkt. Man sieht das im Tennis. Da sind die Grenzen aufgeweicht. Da ist es eigentlich Wurscht, aus welchem Land einer kommt. Da gibt es nur internationale Spieler, die durch die Welt tingeln. Das ist eher länderübergreifend. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Leichtathletik da auch hinkommt. Vielleicht qualifizieren sich nur die ersten 30 der Weltbestenliste für eine WM. Dann sind halt 15 Kenianer im Laufen dabei und 15 Russen im Stabhochsprung – und damit Juck.

Damit wären deutsche Meisterschaften überflüssig.

Genau. Interview: Peter Unfried