Wenn der Feind unsichtbar bleibt

Von Versöhnung ist in Ruanda nicht mehr die Rede. Seit der Rückkehr der Hutu-Flüchtlinge aus Zaire häufen sich mysteriöse Anschläge, und in der Hauptstadt herrscht Belagerungsstimmung  ■ Aus Kigali Andrea König

Im Busbahnhof von Kigali herrscht reger Betrieb. Minibusse aus der Provinz werden entladen, Straßenhändler bieten Sonnenbrillen und Schuhe zum Verkauf an, der Geräuschpegel ist hoch. Alles scheint normal. Aber trotz aller Betriebsamkeit ist die Stimmung irgendwie gedrückt. Es ist gefährlich, von hier aus auf die Reise zu gehen: Erst vergangene Woche geriet 30 Kilometer außerhalb der Hauptstadt ein Sammeltaxi auf dem Weg nach Ruhengeri in eine Straßensperre von notdürftig als Soldaten verkleideten bewaffneten Männern. Der Bus wurde gestoppt, die Passagiere wurden hinausbeordert, und dann trennten die Bewaffneten der Nasenform entsprechend Hutu und Tutsi und erschossen die Tutsi.

„Ich habe Angst“, sagt Fidèle, ein Tutsi in Kigali, der als Nachtwächter arbeitet. Beim Völkermord von 1994, als extremistische Hutu-Milizen über eine halbe Million Tutsi und oppositionelle Hutu umbrachten, verlor er die meisten seiner Familienangehörigen. Ein überlebender Cousin ist jetzt in dem Hinterhalt auf der Straße nach Ruhengeri gestorben. Bitterkeit zeigt sich in Fidèles Gesicht. „Ich habe Angst. Wenn nun die Jagd auf uns wieder losgeht? Für mich gibt es bloß eine Lösung: Ist man absolut sicher, einen Mörder gefaßt zu haben, muß er auf der Stelle und in der Öffentlichkeit getötet werden. Was sollen wir solche Leute ins Gefängnis stecken? Riskieren, daß sie eines Tages wieder frei sind und dann vollenden, was sie 1994 nicht geschafft haben?“

Versöhnung scheint in Ruanda heute ein leeres Wort. Und trotzdem geht das Leben weiter. Die Leute haben keine Wahl – sie müssen in die Hauptstadt auf die Märkte fahren und zurück auf ihre Hügel zur Feldarbeit. Sie müssen mit dem Risiko leben. „Ja, ich fürchte einen Hinterhalt“, sagt ein Reisender. „Aber mein Leben muß weitergehen. Ich kann nicht hierbleiben und warten, bis Frieden einkehrt.“ Der Knall eines Steins, der gegen einen fahrenden Minibus schlägt, läßt ihn zusammenzucken.

„Wenn sie Leute töten – was können wir tun?“

Angst und Schrecken sitzen tief. Heute erzählt man sich hier: Drei Männer seien erwischt worden, die je zwei Plastiksäcke voller Landminen mit sich getragen hätten. Sie hätten den Auftrag gehabt, hier im Busbahnhof und auf dem belebten Zentralmarkt von Kigali Minen zu streuen. Ein Tag vorher wurde im Busbahnhof ein Mann aufgegriffen, der angeblich eine Granate legen wollte. Straßenkinder hätten ihn beobachtet. Er wurde von Soldaten verhaftet und mitgenommen. „Es war eine Granate“, bestätigt Emanuel Ndahiro, Sprecher des Verteidigungsministeriums. „Sie wurde von einem Mann, der aus Zaire zurückgekommen war, unter ein Sammeltaxi gelegt. Er wollte damit Panik erzeugen.“

Nach diesen Vorfällen richteten sich Ruandas Präsident, Vizepräsident und Premierminister an die Nation. Kigali war leergefegt. In den Ministerien waren gerade noch die Pförtner übrig. Die ganze Hauptstadt drängte sich ins Stadion von Nyamirambo, um die Reden der Führer zu hören. Alles, was Rang und Namen hatte, war drin, und wer nicht mehr hineinkonnte, verfolgte die Reden in der Direktübertragung des staatlichen Radios. Die Veranstaltung wurde zu einem unvorhergesehenen Feiertag. Als die Reden vorbei waren, blieben die meisten kommentarlos. Sie nahmen einfach zur Kenntnis, was die Politiker so zu sagen hatten. „Sie haben uns aufgerufen, wachsam zu sein und uns selber zu schützen“, sagt Pétronille, eine Hausangestellte, und seufzt: „Aber wenn ,sie‘ jetzt schon anfangen, am hellichten Tag Leute umzubringen – was können wir da tun?“

„Wir haben einen Haufen Krimineller im Land“

Die Probleme sind mit der Rückkehr von fast einer Million Exil- Ruander aus Zaire im vergangenen November gekommen. Die zairischen Flüchtlingslager, Hochburgen der extremistischen Hutu- Milizen seit deren Flucht aus Ruanda nach Ende des Völkermordes 1994, wurden von zairischen Rebellen aufgelöst, die Hutu-Flüchtlinge strömten zu Hunderttausenden nach Ruanda zurück. „Wir haben der internationalen Gemeinschaft gegenüber betont, daß wir die Rückkehrer überprüfen müssen, bevor sie in ihre Heimatgemeinden zurückgehen“, sagt Ndahiro. „Damit holten wir uns Kritik, also haben wir schließlich alle unbesehen reingelassen. Wir haben es darauf ankommen lassen und gehofft, die Rückkehr würde friedlich verlaufen. Nun ist es anders gekommen. Wir haben einen großen Haufen Krimineller im Land. Die gegenwärtige Lage ist eine schwere Prüfung für uns. Und damit müssen wir zurechtkommen.“

Nicht nur die Ruander müssen das. Fünf ausländische Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und der Vereinten Nationen und ein kanadischer Priester sind seit Mitte Januar ermordet worden – wer die Täter sind, weiß keiner genau. Die meisten Organisationen haben ihre Mitarbeiter nun in Kigali versammelt; manche beginnen sogar, sie ganz aus Ruanda abzuziehen. Die Wagenparks vom Roten Kreuz oder „Save the Children“ bleiben voll, herumgefahren wird nicht mehr. Die protection officers des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, das bei der Reintegration von Rückkehrern helfen soll, langweilen sich; sie warten auf den Entscheid, ob sie bald ihre Arbeit wieder aufnehmen können oder ihre Mission ganz abbrechen müssen. Um die Zeit totzuschlagen, besuchen sie Völkermordprozesse und erzählen sich morgens beim Frühstück zwischen Kaffee und Ananas die neuesten Schreckensmeldungen aus der Provinz. Die ausländischen Mitarbeiter von Botschaften und Hilfswerken leben mit einer selbstauferlegten Ausgangssperre – ab acht Uhr abends, spätestens ab zehn, gehören die Straßen der Armee.

Im Stadtbild von Kigali ist das Militär viel deutlicher gegenwärtig als noch vor ein paar Monaten. In den meistbetroffenen Provinzen im Nordwesten und Süden des Landes hat die Armee nach eigenen Angaben ihre Präsenz verstärkt. Die Bevölkerung ist aufgefordert, nachts zu patrouillieren. „Wir brauchen die Mithilfe der Bevölkerung“, sagt Ndahiro. „Wir können die Armee nicht überall hinschicken.“ Um Übergriffe auf Unschuldige und Racheakte zu verhindern, seien der Truppe Politkommissare zugeteilt, sagt er: „Sollte es zu Übergriffen kommen, sind das individuelle Akte.“

Unter Beobachtern ist man sich einig: Die Anschläge bewirken vor allem Panik, Verunsicherung und Destabilisierung der Regierung. Unter Ruandern wie Ausländern in Kigali zirkulieren die verschiedensten wilden Gerüchte: Für die Anschläge auf Ausländer sei die Armee selbst verantwortlich. Damit bezwecke sie, die Ausländer aus den ländlichen Gebieten zu vertreiben, um freie Hand beim „Aufräumen“ zu haben. Diese These wird auch von Exiloppositionellen vertreten, zum Beispiel der „Widerstandskräfte für die Demokratie“ (FRD) um den früheren Innenminister Seth Sendashonga, der im Exil in Kenia lebt. Die ruandische Armee, sagt die FRD, töte täglich mindestens fünf Menschen. Seit Januar seien mehrere Dutzend Rückkehrer von der Armee umgebracht worden. Erst die Anschläge auf Ausländer hätten die internationale Aufmerksamkeit auf ein Problem gelenkt, das schon vor der Massenrückkehr aus Zaire begonnen habe.

Sollte das stimmen, ist aber nicht einzusehen, wieso die Armee Ausländer angreifen sollte. Außerdem ist Ruandas Regierung auf ausländische Hilfe angewiesen. Die einzigen, die an den Anschlägen ein wahres Interesse hätten, seien die Exsoldaten und Exmilizionäre, die weitermorden, weil ihr Haß ungebrochen blieb und weil sie sich immer noch im Krieg gegen die seit 1994 herrschende, Tutsi- dominierte ehemalige Guerillabewegung „Ruandische Patriotische Front“ (RPF) wähnen. Eine dritte These besagt, eine Gruppe von Tutsi-Extremisten wolle die Regierung von RPF-Führer Paul Kagamé bewußt destabilisieren, um sie durch eine radikalere ersetzen zu können. Und schließlich weist ein Ausländer in Kigali darauf hin: „Es ist möglich, daß einige Morde sich darum drehen, Widersacher aus dem Weg zu räumen, alte Rechnungen zu begleichen, um selbst wieder Zugang zu Privilegien zu bekommen.“

„Zwei Jahre sind zu kurz für Versöhnung“

„Ruanda hat ein Problem, das einzigartig ist“, sagt Omar Bakhet, der ständige Vertreter der Vereinten Nationen: „Die Angst. Eine Million Menschen ist voller Angst aus den Lagern in den Nachbarländern nach Ruanda zurückgekommen, und sie wurden von Menschen begrüßt, die sich selber vor ihnen fürchten. Zwei Jahre sind zu kurz, um Versöhnung zu erwarten“. Dem Terror und der Angst nicht nachgeben, ist die Devise der UN- Vertretung. Die UNO hat ihre Programme zwar reduziert, aber nicht völlig eingestellt – „weil wir glauben, daß unsere Hilfe zum Friedensprozeß beiträgt“, so Bakhet. „Damit aufzuhören würde bedeuten, Öl ins Feuer zu gießen“. Die ausländische Hilfe sei für die Versöhnung in Ruanda wichtig.

Frühmorgens stehen die Lastwagen vor den Gebäuden des UN- Entwicklungsprogramms (UNDP), bereit zur Abfahrt zu ländlichen Entwicklungsprojekten. Der Konvoi wird von einer Armee-Eskorte begleitet. Ein Fahrer lacht: „Ich fahre nach Goma, nicht nach Gisenyi, und in Goma braucht man keine Angst mehr zu haben.“ Das zairische Goma und das ruandische Gisenyi liegen nebeneinander, getrennt durch die ruandisch-zairische Grenze. Noch vor wenigen Monaten war Goma Kriegsgebiet und Gisenyi der sichere Hafen. Jetzt, sagt man, ist es umgekehrt. Die Probleme, die Ruandas Regierung bis Herbst 1996 wegen der ständigen Angriffe aus Zaire hatte, hat sie nun im eigenen Land. Wieder zirkulieren neue Gerüchte: Fünf ruandische Mitarbeiter des UNDP seien in einen Hinterhalt geraten. Fahrer Gaston hat das auch gehört; für ihn ist es klar, daß zu viele ehemalige Soldaten ins Land zurückgekehrt sind, die vergrabenen Waffen herausholen und nun mit Gewalt an die Macht zurückwollen. Trotzdem würde er aber weiter auch außerhalb Kigalis arbeiten. „Nur will ich bei Dämmerung zurück in der Stadt sein. Die Nacht ist gefährlich.“