■ Berlinale-Anthropologie
: Prähistorie II

Zur Pabst-Retrospektive habe ich noch dies Stück persönlicher Prähistorie beizutragen: Am 24. Oktober 1937, eine Woche vor ihrem 24. Geburtstag, schreibt eine gewisse Monika Missmann von der Insel Capri an ihre Schwester Ruth in Berlin: „Auf Capri habe ich, denke dir, Kurt Gerron gesehen, er ist in Rom stationiert und arbeitet, wie ich hörte, auch in diesem Lande. War er bei der ,Dreigroschenoper‘ eigentlich dabei?“ Nein, war er nicht. Zumindest nicht im Film. Dafür gab er im „Blauen Engel“ den Patron des Etablissements, der sich am Ende mit Gusto der Erniedrigung Prof. Unrats zum Clown widmet. Später haben die Nazis Kurt Gerron, der also im faschistischen Italien noch arbeiten konnte, als Juden deportiert und umgebracht.

Monika Missmann war keins der kleinen Ladenmädchen, die ins Kino gehen, sie war Tippse. Als kleine Angestellte nahm sie leidenschaftlich Anteil am Kinogeschehen: Sie weiß, wer Kurt Gerron ist; die Dreigroschenoper in Pabsts Verfilmung hat sie gesehen; auf dem Grammophon mit Handaufzug rotieren in mehreren Schellackplatten die Songs von Weill und Brecht. Daß sie Kurt Gerron in vivo auf Capri gesehen hat und in der Dreigroschenoper wiederfinden möchte, erkenne ich als Wunschlogik. Der Film war ihr wichtig, jetzt sieht sie einen veritablen Filmschauspieler – warum nicht aus beidem eins machen? Die Anwesenheit des Filmschauspielers auf Capri trägt bei zur Transsubstantiation des Orts, bekräftigt den Charakter der Trauminsel.

Nie haben sich die kleinen Angestellten abgefunden mit der Entzauberung der Welt; das Kino diente ihnen als machtvollste Technik der Wiederverzauberung. Die Fotos, die Monika Missmann auf Capri zeigen, geben deutlich zu erkennen, wie sie sich nach Kinovorbildern kleidet und inszeniert. Indem sie gedankenvoll an der Marmorbalustrade lehnt, und die Fotolinse auf sie weist, ereignet sich für den kurzen Augenblick der Belichtungszeit die erwünschte Verklärung des Gewöhnlichen. Auch die Porträts seiner Lieblingstochter, die Max Missmann in Berlin immer wieder aufnahm, möchte man quittieren mit: „Das ist der kommende Ufa-Star!“ Die glänzende Satinbluse, die Perlenkette, das Barett mit Feder, der weiche, ahnungsvolle Blick...

Sie ist in dieser Hinsicht bis ans Ende gegangen. Ihr ganzes Leben läßt sich als ein trauriger Frauenfilm nacherzählen. Zwar gestalteten sich wiederholte Aufenthalte auf Capri als Epiphanien, aber es mißlang ihr, auf Dauer aus Berlin und der Schwermut dorthin zu emigrieren und als Schreibkraft bedeutender Männer hinreichend Geld zu verdienen. Auch die Liebesgeschichte, die Monika Missmann in diesen Jahren beschäftigt, ist kinokompatibel. Der Mann heißt Julius Evola und ist ein richtiger italienischer Baron mit angesilberter Künstlermähne; dazu Philosoph und als solcher prominenter Theoretiker des italienischen Faschismus – was aber, und daraus könnte der Film einiges machen, in die Lebenssphäre Monika Missmanns niemals durchdringt.

Am 10. Oktober 1941, drei Wochen vor ihrem 28. Geburtstag, nimmt sie sich auf Capri das Leben. Am 12. November schreibt Baron Evola aus Rom an Monika Missmanns Schwester Ruth: „Monika lag auf dem Bett, im Pyjama, wie schlafend. Sie dürfte den Übergang gar nicht empfunden haben. Das Zimmer war in Ordnung, von innen zugesprrt. Ein leeres Glas auf dem Nachttisch, und in ihrer Tasche wurden einige leere Tablettendosen gefunden. Der Tod erfolgte durch eine hohe Dosis eines deutschen Schlafmittels.“

Ruth Missmann hatte 1933 einen Mann namens Franz Rutschky geheiratet. 1943 bekamen sie ein Kind, das, als Mädchen erwartet, eigentlich Monika heißen sollte. Es war aber ein Junge und erhielt den Vornamen Michael. Michael Rutschky