In die Fresse, mein Herzblatt

■ Geliebtes Haß-Fernsehen: Eigentlich wollte man nie wieder einschalten... Harry Nutt über den Adorno-Reflex und warum er immer "Herzblatt" gucken muß

Entspanntem, unschuldigem Fernsehkonsum steht der Adorno- Reflex entgegen, der unsereinem bei vielen einfachen Freuden des Alltags in die Quere kommen kann. Dieser Reflex trete ein, erklärt die Soziologin Angela Keppler, wenn wir, mit Kulturerzeugnissen niederer Güte hinreichend vertraut, plötzlich bei uns denken: mein Gott, wenn das der alte Adorno sähe. Der Adorno-Reflex ist also eine Art Sendstrahl des Über-Ich, der auf einen niederfährt, wenn die Dinge auf dem Bildschirm drohen, allzu toll zu werden, und es uns dennoch nicht gelingen mag, von dem ganzen Blödsinn einfach abzulassen.

Von „Herzblatt“ zum Beispiel. Ich bin nicht auf Partnersuche, und die heitere Zwangsoriginalität, mit der die jungen Akteure ihre neckischen Fragen formulieren, um leicht schlüpfrige Antworten zu erheischen und sexuelle Alarmbereitschaft zu signalisieren, helfen mir in meinem Liebesleben, das das „Herzblatt“-Personal vielleicht spießig nennen würde, nicht weiter. Trotzdem höre ich immer noch zu, wenn es heißt: „Ich bin Klaviervirtuosin, und der Nachbar beschwert sich wegen der Ruhestörung. Was, Kandidat 3, entgegnest du ihm?“ Dazu fällt mir nichts ein. Die Kandidaten sind meist nicht einmal besonders schlagfertig, und man merkt ihnen an, daß sie ihre Beiträge zuvor recht beflissen einstudiert haben. Der Kulturkritiker ahnt, daß die Veranstaltung vermutlich als eine Art Model-Contest des Vorabendprogramms funktioniert, zumindest hat das kürzlich ein Kandidat zugegeben. Er möchte Moderator werden und hofft auf Entdeckung. Dahinter steckt vermutlich die nicht unbegründete Annahme, daß Sendungen wie diese zum Pflichtprogramm für Castingagenturen gehören. Tatsächlich kam der ambitionierte Jungmoderator auch einigermaßen gut rüber. Aber was zum Teufel hat das mit mir zutun?

„Bestimmt sind's die feschen jungen Mädchen“, mutmaßt B. Einige sind ja tatsächlich recht hübsch anzusehen, aber das Kino, Demi Moore oder Winona Ryder, bedienen die entsprechenden Bedürfnisse doch sehr viel besser. „Baywatch“ samt ihrer vollbusigen Bademeisterin, von der man jetzt häufiger hört und die man noch öfter sieht, gehört nicht zu meinem Fernseh-Trash-Repertoire. Und spätestens, wenn die jungen Mädchen bei Rainhard Fendrich den Mund aufmachen, wäre die ganze sorgsam aufgebaute Imagination ja auch dahin. Nein, die Mädchen sind's wahrscheinlich nicht. B. muß ihrerseits zugeben, die meisten Typen doof zu finden, noch ehe sie die Chance hatten, etwas von sich zu geben. Rainhard Fendrich, den ich wegen seiner mittleren Schlagerkunst sogar mal ein bißchen gemocht habe, hat seine Entertainerübungen vermutlich bei einem TUI-Animateur-Lehrgang abgeschaut, was ganz gut zu der merkwürdigen Idee paßt, das Siegerpärchen für einen Nachmittag mit einem Hubschrauber in die deutschsprachige Provinz zu fliegen, wo sie sich, garantiert immer unter der Aufsicht einiger volljähriger ARD-Angestellter, ausgelassenen touristischen oder sportiven Freizeitfreuden hingeben müssen. Adorno bezeichnete dergleichen treffend als „Stahlbad des Fun“. Ist es bei einer nicht weniger dümmlichen Veranstaltung wie der „Hunderttausendmark-Show“ die Vorstellung des großen Geldes, die einen bei den körperlichen Verausgabungen der Kandidaten zusehen läßt, so reißt einen der Preis des frisch zusammengebrachten „Herzblatt“-Paares, hoch über den Wolken von Oberammergau, ganz gewiß nicht vom Hocker. Hubschrauberrundflüge gibt's auf jeder Kirmes.

Warum wir doch immer wieder beim Zappen beim „Herzblatt“ hängenbleiben, muß was mit der Freude am „ranking“ zu tun haben. Man läßt die in Kluften und Trachten gestopften Kandidaten ihre Sätze aufsagen und Kunststücke vorführen und zieht anschließend die Haltungsnoten aus dem Karton. Es geht nicht um Sex und nicht um Geld, wenn das Fernsehen die niederen Gelüste befriedigt, sondern um die pure Lust an der sozialen Disqualifikation. Die anderen sind wieder einmal die Dümmsten. Diese Übung kann man angesichts von „Herzblatt“ noch eindeutig und unverhohlen vollziehen. Zu den Inszenierungen jugendlicher Selbstdegradierung läßt sich jederzeit eine ironische Position einnehmen, übrigens auch von den Akteuren. Der Adorno- Reflex wäre demnach nichts weiter als eine gefühlsmäßige Schranke der gebildeteren Kader vor dem Durchbruch der reinen Schadenfreude. Womit nicht gesagt sein soll, daß diese nicht hier und da zu ihrem Recht kommen sollte. Weit problematischer ist, daß der Adorno-Reflex immer häufiger in der Verkleidung veritabler Gesellschaftskritik daherkommt.

Was aus dem „Herzblatt“ wird, wenn Hera Lind die ganze Chose übernimmt, ist nicht gewiß. An „Lind und Leute“ jedenfalls komme ich ohne Zögern und Zucken vorbei.