Turtel-Soup und Null-Null-Sieben

Einst sollte der Uni-Riese die Leipziger Skyline ins sozialistische Zeitalter katapultieren – nur die Fahrstühle kamen nicht mit. Jetzt gehört der Turm einer Bank. Der Fahrstuhlmonteur ist geblieben  ■ Von Daniela Weingärtner

Ein Gipfeltreffen wäre wünschenswert. Der Leipziger Architekturspezialist und Kunstwissenschaftler Thomas Topfstedt und der Fahrstuhlmonteur Karl-Heinz Herrmann müßten sich über ihr Lieblingsthema unterhalten. Die beiden kennen sich nicht, aber sie haben viel gemeinsam. Beide sind bei der Uni Leipzig angestellt. Beide sind fasziniert von Türmen, vor allem von dem Turm vor ihrer Nase: dem Uni-Riesen. Dieses Gipfelgespräch müßte natürlich ganz oben stattfinden, im Panorama-Café. Am besten im roten Salon. Hier stehen die plüschigen Polstersesselchen um die kreisrunde Tanzfläche, als hätte Erich erst gestern das Licht ausgemacht. Sicher, der Staub von sieben Nachwendejahren verschleiert den Panoramablick auf die Messestadt. Hier ist keine Turtle-Soup mehr serviert, keine Tanzkapelle mehr engagiert worden. Aber die roten Samttapeten mit Girlandenmuster und die Kacheln mit braunen Segelschiffen hinter der Theke lassen Tanzvergnügen und Jugendweihe wiederauferstehen.

„Damals ging's doch wirklich aufwärts bei uns.“ Karl-Heinz Herrmann, seit über zwanzig Jahren in der Wartungsabteilung der Uni beschäftigt, sagt es fast trotzig. Stolz betrachtet er die staubige Pracht. „Wenn man bedenkt, daß hier seit 1973 nicht renoviert worden ist, sieht das doch wirklich prima aus.“ Auch an der Bausubstanz ist nicht zu rütteln. Gutachter aus dem Westen haben den Beton geprüft. „Bunkerqualität. Der hält noch ein paar hundert Jahre.“ An einen Bunker fühlen sich auch die Uni-Mitarbeiter erinnert, die im „Turm des Lernens“ ihre Tage verbringen. Dicke Wände, winzige Fenster, keine Bücher. Denn die ursprünglich geplanten Bibliotheken konnten nie in den Bau einziehen. Brandgefahr. Architekt Henselmann hielt einen Trost bereit: Die Turmspitze, aus der Ferne betrachtet, erinnere eindeutig an ein aufgeschlagenes Buch... Thomas Topfstedt, Leipziger Professor für Kunstgeschichte, erinnert sich vor allem an die Havarien der ersten Zeit: Manchmal drang Wasser durch den Plattenbelag in die Elektrizität, das war richtig mulmig. Und fast vom ersten Tag an stand eine Batterie von bunten Plasteeimern in den Büros der obersten Etage. An der Kiesdämmung seien Devisen gespart worden – so munkelten die, die im Regen saßen.

Aber die Aufzüge funktionierten einwandfrei. Daß drei der sechs Motoren im Turnus stillstanden, um Ersatzteile zu sparen, vermutet Topfstedt nur. Das Gerücht konnte wachsen, während die Arbeiter des Kopfes in der Halle vor den Fahrstühlen Wurzeln schlugen. Den Arbeiter der Faust und Aufzugfachmann packt das an der Ehre. Kein Wort wahr, sagt Karl- Heinz Herrmann. Ein Gipfeltreffen wäre wirklich wünschenswert.

Herrmann steht an der Ecke des Platzes, der fast fünfzig Jahre lang Karl-Marx-Platz hieß, an der Stelle, wo 1968 die Seitenflügel des Paulinerklosters und die Universitätskirche in die Luft flogen. Er zeigt auf den abgebrochenen Weisheitszahn, die kantigen Flachbauten daneben: „Mein ganzes Leben steckt da drin. Wir als Menschen haben das doch geschaffen – nicht als Gesellschaftsordnung!“

Daß nicht alle Leipziger Ende der 60er so in Aufbruchstimmung waren wie er, hat er damals nur am Rande mitbekommen. Sicher, die Blumen vor der Universitätskirche, die waren ihm schon aufgefallen. Tagelang hatten die Leipziger Blumen vor das Portal gelegt. Ein Junge hatte sich eingeschlossen, kleine Versammlungen gab es, Demonstrationen könnte man fast sagen. Karl-Heinz Herrmann hatte den schnörkeligen Kasten nie besonders beachtet. Erst durch die Proteste erfuhr er, „daß das 'ne richtig alte Kirche war, aus dem Mittelalter und so“.

Aber es ging doch voran. Die Partei steuerte stramm Richtung „Weltniveau“, und Ulbricht gab eine Parole aus, über die manche heute noch grübeln: „Überholen ohne einzuholen“. Im Neuen Deutschland forderte Kurt Hager, der Chefideologe der Partei, „kühne und originelle städtebauliche und architektonische Lösungen, um den Optimismus und die Kraft unseres Volkes, mit denen es den Sozialismus gestaltet, auch baukünstlerisch zu manifestieren“.

Symbolik von gestern für die technische Entwicklung von übermorgen – so fertigt der Architekturfachmann Topfstedt Henselmanns Bildzeichen-Architektur ab. Ursprünglich sollte es ja noch viel schlimmer kommen: ein zweiter Zylinderturm für Jena, um das Fernglas komplett zu machen. Ein riesiger Schiffsbug für Rostock, ein gigantisches Kristall mit prismatischer Kuppel für die Salzförderstadt Halle, „oder die Landwirtschafts-Universität für Neubrandenburg – das sollte auch so'ne Gurke werden“. Mit der Gurke in Leipzig hatte Henselmann Gewaltiges vor. Schon 1988 hat Thomas Topfstedt in einem Buch über Städtebau in der DDR seine kühnen Konstruktionen durch den Kakao gezogen: „Ursprünglich war das Universitätshochhaus als ein fensterloser Zylinder mit geschoßweise übereinandergesetzten Hörsälen entworfen worden. Allein die Vorstellung, daß sich täglich Tausende von Studenten innerhalb des Gebäudes auf und ab bewegen müßten, löst geradezu apokalyptische Beklemmung aus...“

Auch wenn sich heute bloß das Hochschulpersonal auf den Weg zum Mittagessen macht, ist die Apokalypse manchmal nahe. Dabei sind nach der Wende zwei finnische Turboaufzüge zusätzlich eingebaut worden, computergesteuert. Karl-Heinz Herrmann hat wieder dazulernen müssen, in London diesmal. Jetzt kann er vor dem Bildschirm verfolgen, wie kleine rote Kästchen an blauen Leitergittern rauf und runter flitzen. Ständig und ungefragt rechnet der Computer nach, wie lange die Wissenshungrigen auf einen Transport warten müssen. Noch immer ziemlich lange, trotz Turbo. Herrmann zuckt die Achseln. „Die unteren fünf Stockwerke würde ich sperren. Früher konnte man so was vorschlagen, das wurde in der Leitung besprochen, dann gab es 'ne Probephase. Heute werden wir nicht mehr gefragt. Wir sind ja nur noch – Dienstleister.“

Ja, früher... Aus zehn Mitarbeitern bestand damals die Wartungsabteilung der Uni, fünf sind inzwischen entlassen. Aber der Monteur gehört nicht zu denen, die die Schattenseiten der guten alten Zeit vergessen haben. Zur Messe und bei Staatsbesuchen, da lagen die Nerven blank in der Werkstatt über den Wolken, in der Spitze des Turms. Ein kleiner Fehler – und man fand sich im Flachbau wieder, bei der Parteileitung. Einmal ist ihm das passiert. Der Chef vom Panorama-Café hatte ihn angezeigt wegen Sabotage.

Wenn Leipzig die Welt zu Gast hatte, dann sollte der Fahrstuhl reibungslos zum Himmel schnurren, direkt in die 27. Etage. Jede Panne war Hochverrat. Im braunen Salon hängen die nachgemachten Gobelins noch an den Wänden, nur wenige Leisten fehlen im Edelholz- Paneel. „Die Köche wußten oft gar nicht, was sie mit den exotischen Zutaten anstellen sollten. Hinterher wurde alles weggeschmissen. Und heute liegt dasselbe Zeug bei Aldi in der Tiefkühltruhe“, sagt Karl-Heinz Herrmann versonnen.

Wenn Leipzig die Welt zu Gast hatte, dann wurde auf dem Postgebäude gegenüber vom Uni-Riesen ein großer Spiegel aufgestellt – für Direktübertragungen nach Berlin. Bei den Montagsdemonstrationen kam der Spiegel ein letztes Mal zum Einsatz. Der Sendetechniker, der die Signale auffing, saß oben auf der Krone vom Weisheitszahn, direkt neben Herrmanns Werkstatt. „Manchmal hab' ich dem über die Schulter geguckt. Die filmten unten alles, vor allem Gesichter ganz groß. Aber die meisten hatten ja nu Kerzen. Und das blendete irgendwie die Kamera – jedenfalls konnte man die Gesichter nicht erkennen.“ Die Nutzer der 26 unteren Stockwerke ahnten nicht, daß sich über ihren Köpfen kleine James-Bond-Persiflagen abspielten.

Inzwischen haben die Leipziger mit ihrer Professorenrutsche zu leben gelernt. Es wäre übertrieben, von echter Zuneigung zu sprechen. Aber auch Topfstedt muß zugeben, „daß der Turm, den zunächst keiner leiden konnte, sich seinen Platz in Leipzig geschaffen hat“. Nun hat das Land Sachsen den Turm über den Kopf der Universität hinweg an eine Bank verdealt. Die Klage der Uni dagegen ist gescheitert. Das ist – da sind sich Herrmann und Topfstedt ausnahmsweise einig – ein Zeichen der neuen Zeit, ein schlechtes. „Bei der Uni-Kirche damals hat keiner gefragt, das war nicht recht“, sagt Karl-Heinz Herrmann. „Aber jetzt kriegt unser Hochhaus 'ne Bank, einfach so, das ist auch nicht besser.“