■ Vom Schiedsspruch der internationalen Gemeinschaft profitieren nur die Nationalisten aller beteiligten Seiten
: Das große Spiel um Brčko

Die Stadt Brčko hat eine Schlüsselrolle im Konflikt um das ehemalige Jugoslawien. Weil Brčko und der Posavina-Korridor eine Verbindung zwischen den serbisch kontrollierten Gebieten in Westbosnien um die Stadt Banja Luka und der ostbosnischen Gebiete um Pale wie auch Belgrad darstellen, entscheidet sich hier auch die Zukunft des großserbischen Traums. Denn ohne die Kontrolle über Brčko müßte die serbisch-bosnische Republik Konkurs anmelden. In Brčko werden deshalb darüber hinaus die Weichen dafür gestellt, ob es noch eine Zukunft für einen gemeinsamen Staat Bosnien-Herzegowina gibt oder nicht. Und in der Kosequenz steht damit auch die Zukunft Kroatiens und nicht zuletzt die Integrität der internationalen Politik auf dem Spiel.

Um den serbisch kontrollierten Korridor „zu schlagen“, wurden zu Beginn des Krieges, im Mai und Juni 1992, von serbischen Freischärlern größte Verbrechen an der mehrheitlich muslimisch und kroatischen Bevölkerung dieser Region begangen. Allein in Brčko sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen 7.000 Menschen ermordet worden. Über 10.000 durchliefen die beiden Konzentrationslager, sieben Massengräber wurden bisher entdeckt, Zehntausende mußten allein aus dieser Stadt fliehen.

Es handelte sich um keine zufällige Aktion einer wildgewordenen Soldateska, es war vielmehr eine politische und militärische Strategie. Und auch heute ist es eine wohlkalkulierte Strategie, jeden Kompromiß, der in der Substanz die serbische Position in Brčko gefährden könnte, abzulehnen.

Auf der anderen Seite stehen die Ansprüche der aus dem Korridor Vertriebenen, sie wollen wieder nach Hause. Den serbischen Interessen stehen auch die Interessen der nicht-nationalistischen Politiker Bosnien-Herzegowinas gegenüber. Wie die des jetzt für den Friedensnobelpreis vorgeschlagenen Bürgermeisters von Tuzla, Selim Beslagić. Er will nach wie vor die Integrationskräfte für den Wiederaufbau eines gemeinsamen bosnisch-herzegowinischen Staates stärken. Verlören nun die Extremisten in Pale die Kontrolle über Brčko, dann wäre die „faschistische Politik der ethnischen Trennung“ (Beslagić) gescheitert.

Hinzu kommen die Interessen des muslimisch kontrollierten Teils Bosniens, wieder einen Zugang zu dem europäischen Flußsystem zu erhalten, der Brčko mit der Nordsee und dem Schwarzen Meer verbindet. Sarajevo kann sich nur aus der Umklammerung Kroatiens und der kroatischen Extremisten in Mostar lösen, wenn es einen Zugang zum Welthandel besitzt.

Die serbischen und kroatischen Nationalisten stimmen in Bezug auf Brčko überein. Brčko soll serbisch bleiben. Solange nämlich die Republika Srpska in Bosnien existiert, solange können die kroatischen Extremisten die muslimisch- kroatische Föderation kontrollieren. Alle Straßen nach Sarajevo und Tuzla führen über kroatisches Gebiet. Und das heißt Zölle und Kontrolle. Die von Kroaten beherrschte Westherzegowina ist deshalb zu einer der reichsten Regionen des Balkans aufgestiegen. Nirgendwo sonst gibt es eine solche Dichte von neuen Luxusfahrzeugen wie in Westmostar, Grude oder Siroki Brijeg.

Übereinstimmende Interessen zwischen kroatischen und serbischen Nationalisten gibt es aber auch in bezug auf Ostslawonien: Die Drohung eines Großteils der serbischen Bevölkerung, Vukovar und die ostslawonischen Gebiete zu verlassen, sollte Ostslawonien in Kroatien integriert werden, ist im Interesse der kroatischen Nationalisten. Sie bekämen Vukovar, und die Serben spielten in Kroatien keine Rolle mehr.

Daß gleichzeitig die Präsidentin der Republika Srpska die Serben Vukovars aufruft, nach Brčko und in den Posavina-Korridor zu kommen, ist kein Zufall. Beide Seiten wollen die Umsiedlung. Daß auch Zehntausende Kroaten 1992 aus der Region um Brčko vertrieben wurden, ist für Zagreb angesichts dieser verlockenden Perspektive unwichtig. Es geht ja um Höheres. Schon bei den Verhandlungen in Dayton vertrat der kroatische Präsident Tudjman die Interessen der vertriebenen Kroaten nicht. Wütende Demonstrationen der kroatischen Vertriebenen in Zagreb waren damals die Folge.

Es gibt also ein großes Spiel um Brčko. Und die internationale Gemeinschaft steckt mittendrin. Der Vertrag von Dayton wäre nicht zustandegekommen, hätte man das Problem Brčko nicht ausgeklammert. Die serbisch-bosnischen Streitkräfte waren im Oktober 1995 auf dem Rückzug und militärisch weitgehend geschlagen. Eine gemeinsame kroatisch-muslimische Militäraktion in Brčko wäre möglich gewesen. Doch die Kroaten zeigten kein Interesse, und die Nato wollte die vollständige Niederlage der serbischen Nationalisten vermeiden.

Mit dem jetzigen Schiedsspruch hat die internationale Gemeinschaft wieder einmal den Interessen der Nationalisten nachgegeben. Die Kräfte, die für ein friedliches Zusammenleben eintreten, wie Selim Beslagić, Vesna Terselić (Zagreb) und Vesna Pesić (Belgrad) können sich zwar mit der Nominierung zum Friedensnobelpreis trösten, an den politischen Entscheidungen mitwirken dürfen sie aber nicht.

Dem künftigen Brčko-Supervisor wird es so ergehen wie EU-Administrator Hans Koschnick in Mostar. Einiges Geld wird fließen, es wird ein bißchen aufgebaut, ein paar muslimische Vertriebene werden als Zeichen des guten Willens aufgenommen – an dem Spiel im Ganzen ändert dies aber nichts. Nur wenn die internationale Gemeinschaft den Mut gehabt hätte, Brčko zum internationalen Protektorat zu erklären, hätte es Chancen für einen echten bosnischen Neubeginn gegeben.

Jetzt wird sogar der Einsatz der internationalen Truppen der SFOR obsolet. Zunächst bewirkten sie immerhin, daß nicht mehr geschossen wurde. Heute jedoch wird mit einem Aufwand von 5 Milliarden Dollar im Jahr die Politik der ethnischen Trennung garantiert. Oder wie soll man es verstehen, daß nach 14 Monaten Nato-Truppen in Bosnien-Herzegowina weder die in Dayton vereinbarte Bewegungsfreiheit noch die Freiheit der Medien noch die Rückkehr der Vertriebenen gesichert werden konnte? Was soll man von dem größten Militärapparat der Welt halten, wenn er vor den Ansprüchen einiger Provinzpolitiker in die Knie geht? Die internationalen Militärs haben nur eines gewonnen: Ihr „selbstloser Friedensdienst“ garantiert ihnen trotz der leeren Kassen wenigstens den Verteidigungshaushalt. Erich Rathfelder