Erbakan und Çiller Rücken an Rücken

Schwere Zeiten für die islamistisch-konservative Regierungskoalition in der Türkei: Allabendliche Bürgerproteste, Mißtrauensanträge und ein offener Konflikt mit den Militärs  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die türkische Außenministerin und Parteivorsitzende der konservativen Partei des rechten Weges, Tansu Çiller, die seit fast acht Monaten das Land in Koalition mit der islamistischen Wohlfahrtspartei regiert, hat eine schwierige Woche hinter sich gebracht. Gleich dreimal wurde im türkischen Parlament darüber abgestimmt, ob sich Çiller wegen Korruption, der Annahme von Schmiergeldern und persönlicher Bereicherung vor Gericht verantworten muß – mit den Blockstimmen der Islamisten wurden die Anträge abgelehnt. Zuletzt, am Mittwoch abend, als es darum ging, ob die Politikerin wegen wegen „illegaler Bereicherung im Amt“ vor das Verfassungsgericht muß, stimmten 263 Abgeordnete für den Antrag, 271 mit Nein. Ministerpräsident Necmettin Erbakan hatte vor der Abstimmung den Abgeordneten der Wohlfahrtspartei die strikte Anweisung erteilt, zugunsten Çillers abzustimmen.

Die drei Abstimmungen im türkischen Parlament beantworten gleichsam die Sinnfrage der konservativ-islamistischen Koalition. Der Wunsch, möglichen Anklagen zu entgehen, war der einzige Grund Çillers, mit den Islamisten eine Koalition einzugehen. Noch im Wahlkampf im Dezember 1995 hatte sie die Parteigänger Erbakans als „Separatisten“ und „Feinde der Republik“ tituliert. Nun hat das Parlament alle Bedrohungen Çillers durch mögliche Gerichtsverfahren niedergestimmt – und damit ihre Position innerhalb der Koalition noch einmal gestärkt.

„Ich weiß, daß es große Schwierigkeiten mit unserem Koalitionspartner gibt. Aber wir können das Land nicht ohne Regierung dastehen lassen. Das kann das Land in ein Chaos führen“, soll sie unmittelbar nach dem Abstimmungsergebnis der türkischen Tageszeitung Hürriyet ihrem engen Beraterkreis zufolge gesagt haben.

Doch auch einen Bruch der Koalition und Neuwahlen kann Çiller nicht ins Auge fassen. Die Korruptionsaffären Çillers, die in den vergangenen Monaten bekanntgewordene Mafia-Connection zahlreicher Politiker ihrer Partei und die Koalition mit den Islamisten hat viele ihrer Wähler, die der „modernen“, „westlichen“ und „laizistischen“ Çiller vertraut hatten, verschreckt.

Die Koalition der ungleichen Partner ist weit davon entfernt, politischen Frieden in der Gesellschaft zu stiften. Jeden Abend um neun Uhr stellen Tausende von Bürgern in ihren Wohnungen die Lichter aus, viele Menschen ziehen mit Trillerpfeifen durch die Straßen. Die Aktion „Eine Minute Finsternis für Erleuchtung“ ist ein Protest gegen die Kumpanei von Politik, Mafia und Polizei.

Ein kleiner, linker Kreis – unter ihnen viele aus den Reihen der unorthodoxen Partei „Freiheit und Solidarität“ hatte die Aktion initiiert. „Schweige nicht, sonst bist du als nächster an der Reihe“, lauteten die Parolen auf der Straße unter Anspielung darauf, daß der Staat Todesschwadronen deckte. Mittlerweile werben über die privaten Fernseh- und Rundfunksender täglich Prominente, sich zu beteiligen: Die Konzernchefs Sakip Sabanci und Ishak Alaton, Gewerkschaftsboß Bayram Meral, die „Königin“ des türkischen Kino, Türkan Soray, Popsängerin Sezen Aksu ebenso wie der Literat Orhan Pamuk.

Die Islamisten, die Jahrzehnte in der Opposition verbrachten und über geringen Einfluß im Staats- und Polizeiapparat verfügen, waren ursprünglich nicht Zielscheiben des Protestes. Doch die Wohlfahrtspartei, allen voran Ministerpräsident Necmettin Erbakan, der den Protest als „Menschenfresser- Tanz“ abtat, hat sich selbst zur Zielscheibe gemacht. Der islamistische Justizminister Sevket Kazan nahm den Bürgerprotest zum Anlaß, die alevitische Glaubensgemeinschaft zu beleidigen: „Sie spielen Kerzen löschen“, kommentierte er, was im Türkischen das Synonym für den Vorwurf des Inzests ist – eine Lüge, mit der sich die Aleviten jahrhundertelang konfrontiert sahen.

Ergebnis der Äußerung des Justizministers war, daß auch in Millionen alevitischer Haushalte die Lichter ausgehen und jeden Abend in alevitischen Vierteln der Großstädte auf den Straßen reger Betrieb herrscht. Tausende Rechtsanwälte zogen vorgestern in ihren Roben zum Atatürk-Denkmal im Zentrum Istanbuls, um den Rücktritt des Justizministers zu fordern. Kazan gerät mehr und mehr ins Zentrum der Kritik: „Die Türkei ist laizistisch und wird laizistisch bleiben“, heißt es bei Demonstrationen.

Seit in die allabendlichen Aktionen auch Proteste gegen die Bestrebungen zur Errichtung eines theokratischen Staates Eingang fanden, vergrößerte sich die Bewegung. Mittlerweile gehen auch in den Offizierswohnungen der Türkei die Lichter aus. „Da bleibt einem die Spucke weg“, kommentiert einer der linken Initiatoren, daß mittlerweile Militärs sich an zivilem Protest beteiligen.

Sieht man von den parlamentarischen Oppositionsparteien ab, die nicht in der Lage sind, Alternativen zu formulieren, sind es zwei entgegengesetzte Kräfte, die Widerstand gegen die islamistisch-konservative Koalition leisten. Auf der einen Seite ein unorganisiertes, demokratisch-linkes Spektrum, das immerhin in der Lage war, die spontane Aktion „Eine Minute Finsternis für Erleuchtung“ ins Rollen zu bringen. Auf der anderen Seite die Generäle, denen der islamistische Ministerpräsident ein Greuel ist. Zu den Militärs gesellen sich Institutionen wie das Verfassungsgericht, das über die Putschverfassung von 1982 wacht.

Zuweilen wird Ministerpräsident Necmettin Erbakan mit unfreundlicher Geste in seine Schranken verwiesen. Nachdem der Bürgermeister der zentralanatolischen Kleinstadt Sincan in Zusammenspiel mit dem iranischen Botschafter eine Veranstaltung mit Hisbollah- und Hamas-Plakaten durchführte, die heftigen Protest auslöste, rollten Panzer durch die Stadt. Der Bürgermeister von Sincan sitzt mittlerweile im Gefängnis, und nur ängstlich traut sich Ministerpräsident Erbakan seither zu den Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates, wo die Generäle den Ton angeben.

Auch Staatspräsident Süleyman Demirel reiht sich mit erhobenem Finger in den Chor der Generäle ein. Wer die Religion politisiere – so der Staatspräsident – begehe eine Sünde und ein Verbrechen.

Doch Erbakan prescht immer wieder vor. Mal geht es um den Neubau von Moscheen an symbolträchtigen, „säkularen“ Plätzen in Ankara und Istanbul, mal darum, daß Beamtinnen im Dienst das Kopftuch tragen dürfen. Auch die Gefängnisbesuche seines Justizministers Sevket Kazan bei angeklagten oder verurteilten Islamisten tragen nicht dazu bei, Sympathie bei den Militärs zu wecken.

Aydin Menderes, ein einflußreicher Politiker in der Wohlfahrtspartei, sah sich jüngst veranlaßt, Erbakan zu warnen. „Laßt ab von der Eskalation. Mit der Annahme, ,Ich habe die Macht, ich kann tun und lassen, was ich will‘, läuft nichts. Das Militär und der Islam dürfen nicht aufeinanderprallen.“

Auch in Çillers Partei des rechten Weges regt sich mittlerweile Unbehagen über die Koalition mit den Islamisten. „Wenn beim Kopftuch oder beim Moscheeneubau Konzessionen gemacht werden, spiele ich nicht mehr mit. Ich habe kein Recht, meinem Land Schaden zuzufügen, bloß weil ich drei Tage länger Minister bleiben will“, drohte Gesundheitsminister Yildirim Aktuna. Und Verteidigungsminister Turhan Tayan, der des öfteren in den Generalstab zitiert wird, ist verärgert über den öffentlichen Trubel, den der Koalitionspartner versursacht: „Denen juckt wohl das Fell.“

Doch die „moderne“, „säkulare“ Parteivorsitzende Tansu Çiller schafft es, die Gemüter in ihrer Partei zu beruhigen. Sie als Person sei der Garant für den Laizismus, für Trennung von Staat und Religion in der Türkei. Nachdem Çiller sich der Bedrohung durch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse entledigt hat, wird sie mit kraftvoller Rhetorik die „Brustwehr gegen die Islamisten“ (Çiller im Wahlkampf) spielen – und gleichzeitig ihre Fraktion auf die Fortführung der Koalition eintrimmen. Der Mißtrauensantrag gegen die Regierung, der nächste Woche im Parlament abgestimmt wird, ist zum Scheitern verdammt.

Portrait Seite 11