Alles im Griff nach Dengs Tod

■ Der "Kleine Steuermann" ist tot. Kein Grund zur Trauer, finden die meisten Chinesen. Die Armee demonstriert Gelassenheit, die Partei Kontinuität im Machtgefüge Aus Peking Georg Blume

Alles im Griff nach Dengs Tod

Weiß leuchtet der leicht abnehmende Vollmond über dem Platz des Himmlischen Friedens. Der Tiananmen ist das Herz der Hauptstadt und die politische Projektionsfläche der Republik. Vier einsame Soldaten wachen am frühen Donnerstag am Denkmal der Volkshelden in der Mitte des Platzes. Es ist Mitternacht, Deng Xiaoping ist drei Stunden tot, Gerüchte über sein Ableben machen die Runde in der Stadt, und nichts geschieht: keine Armeefahrzeuge, keine Kameras, keine Schaulustigen. So vergehen noch weitere zweieinhalb Stunden, bis die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua die Welt offiziell vom Tod des „Kleinen Steuermanns“ der Weltgeschichte unterrichtet. In der Zwischenzeit hat Peking den Beginn der neuen Ära glatt verschlafen.

Manchmal sind Epochenwechsel wie Wetterwechsel. Mit Dengs Tods hat in Peking der Frühling begonnen. „Feiert fröhlich!“ fordern die vier überlebensgroßen chinesischen Schriftzeichen, die auf dem Tiananmen für das zwei Wochen zurückliegende Frühlingsfest errichtet wurden. Niemand baut die Schilder ab, auch als die Nationalflaggen am Platz schon auf halbmast wehen. Denn erst seit gestern – nach monatelangen Temperaturen unter null – wärmt die Sonne über Peking wieder. Will deshalb niemand in Trauer verfallen? Wo sind die Tränen geblieben, die noch für Mao Zedong flossen? Richtig: Im Staatsfernsehen sagt ein Bauer, er habe für Deng Xiaoping geweint. Das muß alle Chinesen trösten: Die Simulation der Trauer zeigt, daß die nächste chinesische Kulurrevolution nur noch auf dem Bildschirm stattfinden kann.

Die Partei sieht das mit gutem Recht anders. Sie wacht in der Nacht, als ihr Patriarch stirbt, und nimmt das Ereignis ernst. Mit der Mitgliederliste des Beerdigungskomitees, die gleichzeitig mit Dengs Tod bekanntgegeben wird, will sie den Status quo der Herrschenden zu unsicherer Stunde festschreiben: Die Liste führt Partei- und Staatschef Jiang Zemin, gefolgt von den Ministerpräsident Li Peng und dem Vorsitzenden des Volkskongresses, Qiao Shi, an. So hat es Deng gewollt. Auffällig ist dennoch eines: An fünfter Stelle auf der Trauerliste – gerade einen Platz vor dem Wirtschaftsreformer Zhu Rongji – hat sich der Gerontokrat Peng Zhen, Jahrgang 1902, eingeschlichen. Hegt Dengs neue Garde etwa doch noch Zweifel an ihrer Macht? Freut sie sich nicht, endlich ohne den Einfluß der Veteranen des „Langen Marsches“ regieren zu können?

Sechs Tage will man nun trauern, um dann am Dienstag mit der strengen Bitte, daß Ausländer fernbleiben mögen, den letzten großen Alleinherrscher dieses Jahrhunderts zu Grabe zu tragen. Ein Mausoleum für Deng wird es nicht geben. Sein Letzer Wille ist, seine Asche ins Meer zu streuen.

Die Volksrepublik sucht sich längst neue Symbole: In diesem Jahr noch will sie sich mit der Skyline Hongkongs schmücken. Schon sprechen die Aktienkurse der Kronkolonie die Sprache der neuen Zeit besser als die Verlautbarungen der Partei: Denn der oft vorhergesagte Einbruch, den der Verlust des Vertrauensfaktors Deng den Börsen bescheren würde, bleibt aus. In Hongkong reagiert die Börse positiv, wie auch in Tokio, wo der Nikkei-Index beim Eintreffen der Nachrichten aus China um 2,2 Prozent steigt. Fast ein wenig zu sorglos schreibt Asien den Mann ab, der nach Mao auf dem Kontinent für Wachstum und Ordnung sorgte. Genauso sorglos wie der Pekinger Taxifahrer, der einem amerikanischen Journalisten sagt: „Ich empfände den Verlust von 100 Yuan (20 Mark) viel schlimmer als den Tod Deng Xiaopings.“

Ganz einfach wird es wahrscheinlich nicht weitergehen. Einen Deng, den die ganze Welt, von Bill Clinton bis Jacques Chirac, von Ryutaro Hashimoto bis Helmut Kohl, als Staatsmann und Reformer preist, werden nicht nur westliche Stabilitätsstrategen vermissen. In einem politischen System, in dem die Macht von Personen mehr wiegt als die Macht der Institutionen und in dem es an transparenten Nachfolgeregelungen fehlt, hinterläßt Deng zumindest eine gewisse Unsicherheit. Selten fand in der Geschichte des Absolutismus ein guter Fürst gute Nachfolger. Die neue amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright charakterisiert ihn mit Blick auf die Zunkunft als nur von vorübergehender geschichtlicher Bedeutung: „Die Ereignisse vom Tiananmen-Platz haben jedem, dem die Menschenrechte am Herzen liegen, schwere Probleme bereitet, aber er war zugleich eine Person von historischer Größe in einer Übergangsperiode.“

Der Streit um Deng ist bekannt, und nicht wenige vermuten, daß die neuen Machthaber in Peking ihn sich zunutze machen wollen, um dem Toten die Verantwortung für die blutige Niederschlagung der Studentenproteste im Juni 1989 in Peking anzulasten. Damit wären zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Jiang weiß, daß er nicht vom Mythos seines Gönners leben kann, wenn er bis ins nächste Jahrtausend regieren will. Gleichzeitig kann sich Peking heute in seiner Interpretation der Geschichte großzügig zeigen, weil weitere Demonstrationen nach der Beseitigung nahezu sämtlicher Dissidenten der Tiananmen-Ära nicht zu befürchten sind.

Großzügigkeit, wenn nicht gar demonstrative Gelassenheit führt jetzt vor allem auch die Armee vor: Es scheint, daß nicht ein einziger zusätzlicher Mann am Donnerstag in der Hauptstadt aufgestellt ist. Nicht einmal das Haus von Deng Xiaoping im Norden der Verbotenen Stadt wird strenger bewacht. Die Volksarmee zeigt, daß sie die Veteranen in ihren Reihen nicht mehr nötig hat. Aber sind nicht sechs von sieben Mitgliedern des Städndigen Ausschusses des Politbüros heute Zivilisten? Das bleibt die größte Unsicherheit nach Deng: Wie stark ist das Militär? Hat es die Kraft und den politischen Willen, China zur weltbedrohenden Großmacht aufzurüsten, oder spielt es nur noch eine Zuschauerrolle wie gestern auf dem Tiananmen?