■ Die anthropologische Bedeutung der Arbeit und die fatale Wirkung arbeitsloser Einkommen werden verkannt
: Staatliche Intervention ist gefragt

Die derzeit an den Tag gelegte Gleichgültigkeit gegenüber der massenhaften Arbeitslosigkeit ist geprägt von zwei Irrtümern: der falschen Vorstellung über die Aufgabe des Staates und der falschen Vorstellung über die Bedeutung der Arbeit.

Die herrschende Staatsauffassung ist ultraliberal. Um nicht offen „Laisser-faire!“ und „Enrichez-vous!“ sagen zu müssen, sprechen die Sozialwissenschaftler verhüllend von Selbstreflexivität und Autopoiesis. Es wird Zeit, daß diese Konzepte als Ausdruck der Epoche der achtziger Jahre erfaßt werden, in der sich der Staat den Mächten der Wirtschaft untergeordnet hat: der Epoche, die man „Reagonomics“ oder „Thatcherismus“ nennt. In Abkehr von den sozialdemokratischen Ideen der siebziger Jahre, denen sie ihren akademischen Aufstieg verdanken, stellten sich die Sozialwissenschaftler nach 1980 auf ein permissives Weltbild um und formierten das intellektuelle Yuppietum, das heute den Ultraliberalismus trägt. Undankbar gegenüber ihrer Herkunft versahen sie sich mit einer Philosophie, die es ihnen erlaubt, im Genuß ihrer Privilegien überheblich auf „politische Korrektheit“ und „Gleichheitsideologie“ herabzusehen.

In zunächst kybernetischer und dann biologischer Terminologie bot ihnen die Systemtheorie, die weit über ihre unmittelbaren Anhänger hinaus wirksam ist, dieselbe Ideologie, die schon dem Manchesterliberalismus und der Massenverelendung des vorigen Jahrhunderts zugrunde lag. Obwohl sie nichts Besseres zu bieten hatte als Adam Smiths „unsichtbare Hand“, konnte die Systemtheorie mit Hilfe neuer, verfremdender Paradigmen die unbestrittene Einsicht umsteuern, daß die Eigendynamik der wirtschaftlichen Kräfte notwendig den wachsenden Reichtum auf der einen und die wachsende Armut auf der anderen Seite nach sich zieht. In einer eigentümlichen Bilderwelt wurden die geheimnisvollen Kräfte der Selbstregulierung beschworen, die unerklärt bleiben konnten, weil die Gedankengänge so lange auf sich selbst zurückgebogen und paradox verdreht wurden, bis die kausal ordnende Vernunft allen Mut verloren hatte.

Vergessen wurde, daß man mit staatlicher Intervention in die Wirtschaftsabläufe keineswegs nur schlechte Erfahrungen gemacht hat: Bismarck konnte so ein bis heute stabiles soziales Sicherungssystem schaffen, und den USA ist es gelungen, durch einen New Deal ihr Land aus der Weltwirtschaftskrise herauszuretten. Der New Deal war ein großangelegtes Arbeitsbeschaffungsprogramm, durch das Franklin D. Roosevelt die arbeitslosen Massen wieder gesellschaftlich binden konnte. Auch wenn es heute nicht darum gehen kann, alte Rezepte anzupreisen – jede Epoche braucht ihre eigenen Lösungen –, so ist doch der Selbstregulierungsaberglaube zu bekämpfen.

Nicht nur verkennt man die Rolle, die dem Staat gegenüber der Arbeitslosigkeit zukommt. Man verkennt auch die anthropologische Bedeutung der Arbeit und die destruktiven Wirkungen eines arbeitslosen Einkommens. In den letzten zwanzig Jahren sind Vorstellungen aufgekommen, die die verheerenden Wirkungen der Arbeitslosigkeit bagatellisieren. Statt arbeitsbeschaffender Maßnahmen wurde ein Umdenken angemahnt, das die Massenarbeitslosigkeit in die Normalität integriert. Das „Ende der Arbeit“ wurde als Faktum hingestellt, dem man sich anzupassen habe, und das Ziel der Vollbeschäftigung einem veralteten, von einem obsoleten Arbeitsethos getragenen Konzept zugeschrieben.

Diese Vorstellungen sind heute in den Sozialwissenschaften ebenso wie in der praktischen Arbeit der Sozialbürokratie herrschend. Arbeitslosigkeit wird akzeptiert. Sie wird nicht als Krise betrachtet, sondern als Dauerzustand, der Lebensbewältigungsstrategien verlangt, in denen die Arbeit eine marginale Rolle spielt.

Tatsächlich aber ist der Gedanke, daß die Arbeit nicht nur das notwendige Mittel für die materielle Subsistenz des Menschen ist, sondern ihn auch psychisch und sozial konstituiert, keineswegs von gestern. Er ist im Gegenteil das Signum der Moderne, und die postmoderne Lockerung gegenüber dem Ziel der Vollbeschäftigung ist kein Fortschritt, sondern eine Verfallserscheinung, die die gesellschaftliche Entwicklung in Anomie treiben läßt.

Nach richtiger, insbesondere von Marx vorgetragener Auffassung verwirklicht sich der Mensch in seiner Arbeit. Man muß daran nicht die Folgerung knüpfen, daß die Produktionsmittel zu enteignen seien. Auch ohne diese Konsequenz, die sich als Irrweg erwies, behält die Basisannahme von der zentralen Bedeutung der Arbeit ihre Richtigkeit. Es muß nicht, wie Marx meinte, die unentfremdete Arbeit sein; dieses Luxuskonzept ist in einer arbeitsteiligen Gesellschaft undurchführbar. Wenn man diesen utopischen Ballast überwinden will, muß man auf Hegel zurückgreifen, von dem Marx die Vorstellung übernommen hat, daß die Arbeit identitätsbildend ist.

Aus seiner Einschätzung der Arbeit als Konstituens der Persönlichkeit zog Hegel die Konsequenz: „Würde die Subsistenz der Bedürftigen gesichert, ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein“, so wäre das ein Verstoß „gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre“. Ohne diese Gelegenheit gehen „Scham und Ehre“, die „subjektiven Basen der Gesellschaft“, verloren. „Somit entsteht im Pöbel das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch Arbeit zu finden.“

Man muß den durch Arbeitslosigkeit bewirkten Zustand nicht „das Böse“ nennen; sie führt aber zu einer psychischen Verfassung, die man als „Deformation des Selbstkonzepts“ bezeichnet, einer Identitätsauflösung, die mit dem Verlust der Zeitstruktur einhergeht und Depression, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit nach sich zieht. Nur wenige Glückliche sind imstande, dem durch eine selbstentworfene Alltagsgestaltung zu entgehen.

Es kommt gegenwärtig nicht darauf an, sich die rivalisierenden Konzepte, wie dem Übel zu begegnen sei, gegenseitig um die Ohren zu schlagen. Es kommt in erster Linie darauf an, das Bewußtsein für die dringende Notwendigkeit solcher Bemühungen zu wecken und die vorherrschende Haltung als Manchesterliberalismus zu erfassen, dem ein neuer New Deal entgegenzustellen ist: ein Neuverteilen der Karten mit neuen Chancen für die Arbeitslosen, die überwiegend die Jungen sind. Sibylle Tönnies