Empörung über den Abschied vom Solidarprinzip

■ Mit dem Streit über den Arbeitgeberanteil bei den Krankenkassenbeiträgen steht das gesamte Sozialversicherungssystem zur Disposition. Koalition in der Krise

Bonn (taz) – In der Diskussion um die Finanzierung der dritten Stufe der Gesundheitsreform stellte die FDP den Koalitionspartner gestern vor die Wahl: Entweder stimme die CDU der sogenannten Optionslösung zu, oder die Liberalen verweigern ihre Zustimmung zu der Begrenzung von Zuzahlungen der Versicherten der Krankenkassen. Das medizinische Niveau in Deutschland sei nur zu halten, wenn die Patienten stärker als bisher in die Eigenbeteiligung einbezogen würden, so der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Dieter Thomae (FDP). Am Dienstag erwarte man eine Entscheidung in der Unionsfraktion.

Die Optionslösung des Seehofer-Ministeriums sieht vor, den Arbeitgeberanteil an den Krankenkassenbeiträgen einzufrieren und die Beitragserhöhungen einseitig den Arbeitnehmern aufzubürden. Dagegen sprachen sich Sozialpolitiker der CDU aus. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Heiner Geißler sowie der Vorsitzende der CDU-Arbeitnehmergruppe, Wolfgang Vogt, warnten vor dem „Dammbruch für die anderen Sozialversicherungen“.

Tatsächlich erklärte FDP-Politiker Jürgen Möllemann, eine einseitige Belastung könne „Modellcharakter“ für die anderen Sozialversicherungen haben. „Wir müssen 100 Jahre Sozialversicherung überwinden“, erklärte er. Möllemann trat dafür ein, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit auch Renten-, Arbeitslosen- und Sozialversicherungsbeiträge von den Arbeitskosten abzukoppeln.

Als „Abschied vom Solidarprinzip“ bezeichnete Hubertus Schmoldt, Vorsitzender der Gewerkschaft Chemie-Papier-Keramik, das vorgeschlagene Optionsmodell. Er warf „Hardlinern im Arbeitgeberlager“ und „marktradikalen Politikern“ vor, einen Systemwechsel herbeiführen zu wollen. Die SPD lehnt die Pläne der Koalition ebenfalls ab. Der gesundheitspolitische Sprecher der Sozialdemokraten, Klaus Kirschner, hält es für besonders brisant, die „katastrophale, völlige Veränderung der paritätischen Finanzierung“ auch auf die Renten- und Sozialversicherung auszuweiten.

Der Versuch der Union, die Kosten des Gesundheitswesens zu senken, hat unversehens den Kern des Sozialversicherungssystems zur Diskussion gestellt. In einer Sondersitzung der CDU/CSU- Bundestagsfraktion hatte es am Donnerstag abend trotz aller Bemühungen keine Einigung gegeben. Es gebe noch Diskussionsbedarf, hieß es gestern aus Unionskreisen. Dieser soll am kommenden Dienstag befriedigt werden. Mit einer Entscheidung rechnet dort trotz des FDP-Ultimatums niemand. Leif Allendorf