Sonnenstein/Pirna

Rutengänge auf den Wegen der Toten  ■ Von Gabriele Goettle

Pirna liegt am linken Ufer der Elbe, fast genau in der Mitte zwischen der tschechischen Grenze und Dresden. Die Stadt wurde im 13. Jahrhundert gegründet und war fast fünfhundert Jahre lang eine Festung. 1573 wurde an der Stelle der alten Burg das Schloß Sonnenstein errichtet, das in späteren Jahrhunderten erst als Staatsgefängnis diente und dann, ab 1811, als Irrenanstalt. Anfang und Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden auch die Stadtkirche St. Marien und das Rathaus. Diese prägnanten Gebäude müssen sich wunderbar im silbrigen Blaugrün der Elbe gespiegelt haben. 1752 kam Canaletto und malte mehrere Stadtansichten vom gegenüberliegenden Elbufer aus. Heute ist die Altstadt in einem schlechten Zustand und lediglich um den Marktplatz herum aufwendig restauriert. Dennoch strahlen die verwinkelten Gassen, steinernen Erker, Brunnentröge und Bürgerhäuser immer noch etwas vom gediegenen Glanz längst vergangenen Reichtums aus, mit dem die Stadt sich schmückte. Vieles ist aus Stein, jenem hellen Elbsandstein, der hier jahrhundertelang abgebaut wurde und dessen warmer Farbton auch Dresden dieses helle, durchsichtige Leuchten verlieh. Überragt wird die Altstadt vom Sonnenstein, einem flachen Vorsprung des auslaufenden – oder wie man hier sagt, beginnenden – Elbsandsteingebirges. Oben liegt ein großes Neubaugebiet aus den fünfziger und sechziger Jahren, dem man nach der Wende einen protzigen Supermarkt namens „Kaufland“ vor die Haustüren gestellt hat. Dort gibt es für die arbeitslos gewordenen Werktätigen fast alles zu kaufen, auch, wie die weibliche Lautsprecherstimme weich und sächsisch empfiehlt, „Hamsdorfuddor“ und Günstiges aus „unserem Non-food-Bereich“.

Auf dem Sonnenstein liegt aber auch an exponierter Stelle, und zwar in Sichtweite der Stadt, die ehemalige Tötungsanstalt Pirna/ Sonnenstein, vormals Heil- und Pflegeanstalt. Die Geschichte dieser Anstalt und dieses Geländes ist erzählenswert, denn in ihr spiegelt sich deutsche Geschichte wider, besonders einige ihrer krassen Widersprüche.

1811 zogen Kranke aus der Irrenanstalt Torgau mit dem Arzt Ernst Gottlob Pienitz auf dem Sonnenstein ein, ins Gebäude des alten Schlosses, das eben noch Staatsgefängnis war. Pienitz war, so ist in Meyers Konversationslexikon von 1905 nachzulesen, ein bereits berühmt gewordener Reformer. 1907 trennte er heilbare von unheilbar Irren, was eine revolutionäre Tat war, denn bis dahin galten alle Formen des Irreseins als unheilbar. Auf dem Sonnenstein in Pirna wurde von ihm 1811 die erste Irrenheilanstalt Deutschlands gegründet. Zugleich wurde mit dem Abriß der Festungsanlagen rund um das Schloß begonnen. Doch 1913 besetzten Soldaten Napoleons die Anstalt, quartierten die Insassen um und begannen die Festung wieder auszubauen, bis zu ihrer Abkommandierung (zur Völkerschlacht bei Leipzig). Danach Wiedervereinigung der Kranken und Schleifung der Festung. Allmähliche Erweiterung der Anstalt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und – in Anlehnung an fortschrittliche englische Methoden zur Verwertung von Arbeitskraft – Einrichtung einer anstaltseigenen Landwirtschaft, betrieben von Kranken, außerhalb der Anstaltsmauern, auf dem nahegelegenen Vorwerk Cunnersdorf. Das eigentliche Anstaltsgelände, so wie man es heute noch sehen kann, entstand vor allem um die Jahrhundertwende. Dort wo sich einst die Festungsanlagen befanden, wurden (ähnlich wie bei der Anstalt auf dem Steinhof in Wien, nur um vieles schlichter) im Pavillonstil diverse Häuser für die Kranken errichtet, dazu Versorgungsgebäude, Werkstätten und auch eine Kirche. Das alles steht in einem großen, ummauerten, parkartig angelegten Gelände. Mittlerweile war die Einrichtung zur Heil- und Pflegeanstalt geworden, in der die Kranken, nach Geschlechtern getrennt und dem Grad ihrer Krankheit, eine weithin berühmte Reformpsychiatrie genießen konnten. Während anderswo verwahrt und versorgt wurde, gab es auf dem Sonnenstein nicht nur eine erweiterte Arbeitstherapie, sondern auch Kontakte zwischen den Kranken und Bürgern der Stadt in Form gemeinsamen Theaterspielens und Musizierens. Bis 1928 war Georg Ilberg ärztlicher Leiter, ein Mann, der sich gegen die Thesen der 1920 erschienenen Schrift von Binding und Hoche unmißverständlich ausgesprochen hatte. (In dieser Schrift, auf die sich alle späteren Vernichtungsspezialisten beziehen „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ wird in aller Offenheit die Tötung unheilbar Geisteskranker sowie physisch Kranker und sogenannter Mißgeburten für vertretbar erklärt. Und zwar aus juristischer und medizinischer Sicht, ganz besonders aber unter dem Gesichtspunkt der Rentabilität.)

1928 wurde Paul Hermann Nitsche ärztlicher Direktor auf dem Sonnenstein. Er war seit dem Beginn der zwanziger Jahre als engagierter Reformpsychiater bekannt. 1933 trat er in die NSDAP ein, bald schon gefolgt von einer gesamten Belegschaft. 1939, nach Kriegsbeginn, wurde die Anstalt erst teilweise und dann ganz aufgelöst, angeblich, um sie für Lazarettzwecke bereitzuhalten. Nitsche ging nach Leipzig. Stieg dann in wenigen Jahren vom stellvertretenden medizinischen Leiter der T4-Aktion auf (T4 = Tiergartenstraße 4, Adresse und Tarnname der Zentrale, von der aus die „Euthanasie“ koordiniert wurde). Das, was 1811 in Pirna auf dem Sonnenstein begann, die Trennung zwischen heilbaren und unheilbaren Irren, hatte ausschließlich lebensrettende Intention. 128 Jahre später jedoch hat sie die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zur Folge, umsichtig organisiert vom letzten ärztlichen Direktor der Anstalt, der sich vom glühenden Reformer zum eiskalten Kosten-Nutzen-Fachmann, Obergutachter und Mordstrategen entfaltet hat. (Übrigens nicht der einzige Reformer, der zum Vernichtungsfunktionär wurde, während ein Vordenker der Vernichtung, Hoche, nach 1933 abgerückt sein soll von seinem vormaligen Standpunkt, besonders, nachdem ihm die Urne einer ermordeten geisteskranken Verwandten zugesandt worden war.) Nitsche wurde im Dresdner Ärzteprozeß im Juli 1947 verurteilt und im März 1948 hingerichtet; das sei hier vorwegnehmend vermerkt, damit ich es nicht vergesse.

1940 wurde die ehemalige Heilanstalt Sonnenstein dazu bestimmt, eine der sechs „Euthanasie“-Zentren zu werden. Man trennte im hinteren Teil des Geländes durch Mauer und Lattenzaun einige Gebäude ab und installierte im Keller des ehemaligen Hauses 16 eine Gaskammer, zwei Krematoriumsanlagen mit Schlot, einen Sezierraum. Im Juni 1940 wurde mit der „Arbeit“ begonnen. Sie bestand darin, die zur Vernichtung Bestimmten – nach Transport und letzter ärztlicher Besichtigung – zu vergasen, ihre Leichname zu verbrennen, ihre verkohlten Reste in Knochenmühlen zu zerkleinern, ihren unnatürlichen Tod zu einem amtlich beglaubigten, natürlichen Tod zu machen. Leiter der Vernichtungsanstalt war der Arzt Horst Schumann (der später in Auschwitz durch seine Menschenversuche berüchtigt wurde). Ein Stab von 80 bis 100 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bezog Dienstwohnungen in der Anstalt Sonnenstein, darunter vier weitere Ärzte, Pfleger, Schwestern, das Transport- und Polizeikommando, ein Oberdesinfektor und seine Desinfektoren (Nazi-Tarnbegriff für das Vergasungskommando, die Vergasung hieß Desinfektion), ein Wirtschaftsleiter und seine Mitarbeiter sowie der Büroleiter und seine Sacharbeiter für: Nachlaßbearbeitung, Urnenversand, Patientenkartei, Trostbriefabteilung und Standesamt (zur Ausfertigung der Sterbeurkunden).

Sture Aufzählung der Geschehnisse und des Personals regt, trotz oder wegen des Grauens, die Vorstellungskraft merkwürdig wenig an. Das ändert sich aber sofort, wenn man sich vor Augen führt, daß diese Belegschaft natürlich ein geselliges Leben führte, mit gemeinsamen Ausflügen, Betriebsfeiern, Skat- und Kameradschaftsabenden, fröhlichem Musizieren, Singen und einem offensichtlich störungsfreien Geschlechtsleben. Nicht nur Dr. Schumann lernte seine spätere Ehefrau auf dem Sonnenstein kennen, auch andere Mitarbeiter fanden sich gegenseitig anziehend. Einer der Ärzte ließ im Dezember 1940 seine Ehfrau nach Pirna kommen und verbrachte mit ihr zwischen Weihnachten und Neujahr einige unbeschwerte Tage auf dem Sonnenstein. Aber auch der Sport bot Abwechslung, es gab eine Handballmannschaft, und man trat sogar gegen die Handballmannschaft der Vergasungsanstalt Bernburg an.

Von Juni 1940 bis zum Herbst 1941 wurden in der Anstalt Sonnenstein etwa 15.000 Kranke aus verschiedenen Anstalten und Häftlinge aus verschiedenen Konzentrationslagern systematisch ermordet, darunter auch 573 Häftlinge aus Auschwitz, die von Dr. Schumann persönlich selektiert wurden. Das Morden geschah natürlich nicht unauffällig, schon deshalb nicht, weil aus dem Krematoriumsschlot (wegen einer Fehlkonstruktion) oft meterhohe Flammen loderten, der Rauch unübersehbar war und der Verbrennungsgeruch sich über die ganze Landschaft legte. Auch die Asche und Knochenreste der Ermordeten versteckte man nicht nur auf der anstaltseigenen Deponie, des öfteren sollen die „Brenner“ im Morgengrauen diese Asche über den Elbhang hinab bis auf den Canalettoweg gekippt haben. Das alles ereignete sich sozusagen unter den Augen der ganzen Stadt, die ruhig blieb, in der man seinen alltäglichen Geschäften nachging. Auf dem Sonnenstein war zudem seit 1940 ein Auffanglager für „Heim ins Reich“-Übersiedler aus Wolhynien und Bessarabien, in dem Hunderte von Menschen quasi Wand an Wand mit Gaskammer und Krematorium wohnten. Es sieht also ganz danach aus, als wären die Vernichtungsspezialisten ihrer Sache ganz sicher gewesen. Dennoch wurden nach dem offiziellen Stopp der „Euthanasie“ im Herbst 1941 die Mordaktivitäten auf dem Sonnenstein eingestellt. Aus unerklärlichen Gründen blieb aber ein großer Teil des Personals bis August 1942 an Ort und Stelle, sozusagen untätig, wie in Erwartung eines Auftrags. Ende November 1941 fand auf dem Sonnenstein eine T4-Tagung statt; Thema des Treffens: die baldige Ausweitung der Tötungspraxis zu einer fabrikmäßigen Massenvernichtung in Vernichtungslagern. Viele der künftigen Opfer waren bereits zusammengetrieben in Rußland und Polen. Ein Teil der Experten vom Sonnenstein ging – so wie auch aus anderen Tötungsanstalten – in den „Osteinsatz“ nach Auschwitz/Birkenau, Treblinka, Sobibor, Belzec. Zuvor aber verwischten sie alle Spuren; Krematorium, Schlot und Gaskammer wurden beseitigt, die Räume wieder in ihren ehemaligen Zustand gebracht.

1994 an einem Wochenende im Spätsommer kommen wir eher zufällig in die Gegend und beschließen, Pirna/Sonnenstein einmal anzuschauen. Nicht recherchierenderweise, sondern rein aus persönlicher Neugier. Oben auf dem Berg liegt das ehemalige Anstaltsgelände immer noch hinter einer Mauer. Sie zieht sich die Straße entlang, und in der Kurve finden wir das Eingangstor. Hier informiert eine Münchner Projektentwicklungsgesellschaft „Communitas“ mit einem mehrere Meter hohen Schild über die Zukunft des Geländes als Technologie- und Büropark. Innen ist der ehemalige Anstaltspark wüst verwildert, dazwischen teils verfallende, teils halbrenovierte Gebäude. Ein Heizrohr mit herausquellendem Isolationsmaterial windet sich dahin. Vorn am alten Schloß sitzen rauchende junge Menschen auf einem Mäuerchen, sie leben hier in einem Wohnheim für geistig Behinderte, erfahren wir, sie arbeiten in eigenen Werkstätten, die bereits zu DDR-Zeiten bestanden und nun zur Arbeiterwohlfahrt gehören. Einer der Betreuer berichtet, daß bedrückte Stimmung herrsche, weil man ausziehen müsse, den Platz räumen für gewinnbringendere Projekte. Weiter hinten auf dem Gelände ist das Arbeitsamt in eines der Häuser eingezogen, die Staatsanwaltschaft und auch einige kleinere Gewerbebetriebe. In der geschlossenen Anstaltskirche hängt – so entnehmen wir dem Schaukasten – eine Ausstellung zur Geschichte der Euthanasie (es war, so erfahren wir später, die T4-Ausstellung des Berliner Historikers Götz Aly, die, lange Zeit in einem Bus an der Tiergartenstraße zu besichtigen, kurz vor der Wende nach Pirna kam).

Heute, am Wochenende, ist hier oben weder Renovierungslärm noch Publikumsverkehr, es herrscht weitgehende Stille, nur von der Straße her dringt über die Mauer ab und zu Motorengeräusch. Obgleich mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, scheint auf den gewundenen Wegen unter den alten Bäumen immer noch ein Hauch jenes hospitalisierten Lebens spürbar, das die einstmaligen Insassen führen mußten. Aber immerhin brachte man sie nicht um. Die Mordopfer hingegen, hier antransportiert, ohne etwas gesehen zu haben vom Glitzern der Elbe, von den fernen Bergen, den Dächern der Stadt (weil die Fenster der Krankentransportbusse grau angestrichen waren), hatten keinen einzigen weiteren Tag mehr zu leben. Viele von ihnen wußten, was bevorstand. Ihr letzter Weg führte unter Aufsicht von Pflegern und Schwestern vom Parkplatz zu einem Entkleidungsraum, vorbei am taxierenden ärztlichen Blick, vor einen Fotografen, Ganzbild, Brustbild, Profilaufnahme, direkt in die Gaskammer. Nach zwanzig Minuten waren sie tot, wenige Stunden später war es, als hätten sie nie gelebt. Übriggeblieben ist der Tatort, ein Ensemble von Häusern, in denen die Mordmaschinerie arbeitete, lebte und liebte. Sie stehen leer, wild umwuchert von Brennesseln und Rainfarn, unter denen die Schotterwege allmählich schmaler werden. An Renovierung scheint man nicht interessiert. Im Gegenteil, hinter einigen der vergitterten Fenster stehen beide Flügel offen, ebenso in den Mansarden, auf den Dächern rutschen die bemoosten Schindeln ab, all das scheint auf Unbrauchbarmachung und Abriß hinzuzielen. Fast überflüssig zu bemerken, daß nirgendwo ein Hinweis zu finden ist, keinerlei Tafel, Kasten, nichts. Dafür finden wir am Wegrand ein merkwürdiges Zettelchen am Boden mit dem Aufdruck: „Wir wissen, was gespielt wird!“ (Werbung der Kreissparkasse auf den Kinokarten des Pirnaer Filmpalastes).

Auf dem Rückweg zum Schloß treffen wir im Park auf einen älteren Mann mit Hund. Sein Hund und unser Hund, erfreut über die unvermutete Begegnung, spielen ein wenig miteinander, während der Mann uns freundlich Auskunft gibt: „Ja, ja, sieht wüst aus hier, seit der Wende. Früher waren oft fünf bis sechs Leute beschäftigt und haben die ganzen Anlagen gepflegt, das war hier alles VEB Strömungsmaschinenbau. Vor dem Krieg war's ja eine Irrenanstalt, da wurden sogar welche umgebracht, damals im Kriege, das wissen Sie, ja? Da gibt es eine Gedenktafel, ja, ja, vorn, wenn Sie die paar Stufen runtergehen zur Schloßschänke, da ist die, ein Stück weiter, eingelassen in die Mauer. Die hat der antifaschistische Kampfbund von Pirna in den siebziger Jahren, glaube ich, war das, dort anbringen lassen. Und früher eben, nach dem Kriege, war hier ein Werk für Flugzeugmotoren, teilweise war das ein Geheimobjekt. Vorn an dem Häuschen, das jetzt ganz verfallen ist, da mußte man die Tasche abgeben, jeder einzelne der hier gearbeitet hat, damit niemand was mit rausnimmt oder reinbringt. Damals habe ich hier angefangen, als Fahrer. Man bekam einen Ausweis, hier auf die Jacke, damit durften wir nur in ganz bestimmte Bereiche reinfahren, wenn was zu liefern war. Immer nur bis an die Laderampe, keinen Schritt abseits! Teilweise wurde hier ja für die NVA mitproduziert. Später wurde das alles VEB Strömungsbau, wozu, weiß ich nicht. Nach der Wende hat hier oben alles zugemacht – unten übrigens auch, die Seidenspinnerei, das Zellstoffwerk, alles zu – hier oben ist nur noch dieser Rest von Glöckner, die machen noch Strömungsmaschinen für Diesellocks. Jetzt hat das ganze Gebäude irgend so eine GmbH aus München gekauft, die will ins Schloß ein feines Hotel reintun, es sollen Geschäftsleute her und Gastronomie.“

In dem Häuschen, von dem der Mann sprach, sind alle Scheiben eingeschlagen, die Türstöcke herausgerissen. Vegetation breitet sich aus. An der Wand hängt ein vergilbtes Schild aus VEB-Zeiten: „Kollege! Sichere dein Fahrrad, denn hast du einen Verlust zu beklagen, mußt du den Schaden selber tragen.“ Nicht weit von hier liegt hinter einem Mäuerchen der ehemalige Anstaltsfriedhof unter verrotteten Trabigaragen, Autowracks, Maschinenteilen und gelbem Rainfarn. Vom Schloß auf führen steile Stufen hinab zur tiefergelegenen Schloßschänke und zur Mauer mit der Tafel. Es ist trist, zwei steinerne Tröge auf steinernen Sockelchen stehen flankierend bereit zur Aufnahme des Blumenschmucks am jeweiligen Gedenktag. Text: Zum Gedenken an die Opfer faschistischer Verbrechen, verübt in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt auf dem Territorium Pirna-Sonnenstein 1940–1941. Die Schloßschänke ist wegen Mangels an Gästen eigentlich am Zusperren, wir werden aber dennoch eingelassen und nehmen im Biergarten Platz. Der Kellner wirkt wie ein Pfleger, Hose, Hemd und Schuhe sind weiß. Das bürstenlange Haar ebenso. Er trägt eine Brille und sucht Kontakt. Nach dem Servieren bleibt er stehen am Tisch. Wir erfahren, er war Fräser gewesen in Dresden, ist jetzt arbeitslos und lebt allein in seiner Dreiraumwohnung, seit die Mutter gestorben ist vor sieben Jahren. Er spricht so sehr sächsisch, daß wir uns erst einhören müssen: „So was kennen wir an sich gar nicht, all die Modde und Ibafälle, die Schkinhäds – bei uns in Pirna jetzt auch. Ja, ja, ne, ne – nur noch Modde und Ibafälle, am vergangenen Sonnabend war auch was gewesen, hinten bei der Tengelmann-Kaufhalle, mit Schkinhäds, wegen dem Rudolf-Heß-Todestag, wissen Sie? In jeder kleineren Stadt gibt's das jetzt, immer diese Modde und Ibafälle. Ja – ne, ne, ne! Montag waren da Gäste von Konstanz und haben draußen in Struppen übernachtet. 190 Mark haben die verlangt für die Nacht. Ne-ne-ne!“

Wir steigen die Stufen weiter hinunter in die Stadt zu einem Abendspaziergang, streifen durch düstere, entmietete Zeilen hinter dem Zentrum und über die restaurierten Plätze, auf denen überall steinerne Brunnen stehen, in die, aus schön gespenglerten Speiern, ständig frisches Wasser fließt. Quellwasser. Nahe den Treppen zum Schloß ist ein gutrenovierter Brunnen mit Inschrift: „Der Erlpeter bin ich genannt. Armen Leuten wohl bekannt, wer nicht Geld hat in seiner Tasche, der trinkt mit mir aus meiner Flasche.“ Das Wasser ist kühl und weich. Wir haben nicht bereut, einen Kanister voll für die Weiterfahrt abgefüllt zu haben. Dann steigen wir müde hinauf zu unserem Wagen, der abseits neben einem atelierartigen Gebäude steht, und beschließen, die Nacht über zu bleiben. Es ist fast dunkel hier oben, nur im Wohnheim der Arbeiterwohlfahrt brennt Licht. Am Horizont im Westen steht noch ein schmaler, grauvioletter Streifen.

Morgenspaziergang mit Hund über den Canalettoweg. Von einer der Aussichtsterrassen eröffnet sich ein wunderbarer Blick auf den Fluß und den gegenüberliegenden Berghang. Dort befinden sich, wie auch hier, zahlreiche Datschen und Gärten, sie sind nur weniger komfortabel wegen der steilen Hanglage. Vom Fluß her dringt das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges, dann, nach einem Moment der Stille, ist plötzlich eine Männerstimme zu hören, die martialisch bellend und lautsprecherverstärkt Kommandos hervorstößt. Unwillkürlich denken wir an die vom Kellner erwähnten „Schkinhäds“. Dann aber erscheinen auf der Elbe zwei Boote voller Ruderer, die stromaufwärts vorbeigleiten. Beim Rückweg an den Datschen entlang treffen wir auf ein Ehepaar Mitte Sechzig, das gerade seinen Gartenzaun erneuert. Sie sind zum Plaudern aufgelegt und geben uns gern Auskunft. Meist spricht er, ab und zu korrigiert und bestätigt durch die Frau.

„Also, was das früher war, das wissen Sie ja, und dann – ich war ja vierzehn, fünfzehn Jahre erst –, die Eltern haben so etwas geahnt, man hat viel gemunkelt damals, und der Rauch von den armen verbrannten Menschen war ja auch überall von der Stadt aus zu sehen. Aber letzten Endes, so richtig vorstellbar war das nicht. Und dann kam, noch im Krieg, eine Adolf-Hitler-Schule für die HJ rein und irgendeine Verwaltung, auch ein Lazarett, glaub' ich. Nach dem Kriege waren dann die Russen oben stationiert, nachdem sie Pirna eingenommen hatten, bis Ende Vierzig und dann das Landratsamt und eine Schule der Volkspolizei, und dann kam ja das Flugzeugwerk, was später VEB Strömungsmaschinenbau war – ja, und das wurde nun fast alles verkauft hier, war im Besitz des Liegenschaftsamts Dresden, nach der Wende, und der Freistaat Sachsen hat es als Restitution zurückbekommen, weil's ja seine Heil- und Pflegeanstalt war, ursprünglich. Behalten hat er die Ecke, wo die Kranken umgebracht worden sind, also das ist, wenn Sie hier durch das Blechtor reingehen, auf der linken Seite gleich, was da noch an der Mauer steht, gleich das zweite Gebäude, da war's. Soll jetzt eine Gedenkstätte rein, aber es gab großen Ärger deswegen. Und das Hauptgebäude soll dann die Verwaltung für die ganzen Gedenkstätten in Sachsen sein, dabei haben wir doch an sich gar keine!? Das zweite Gebäude soll für die Ausstellung genutzt werden, die jetzt in der Kirche ist. Außer donnerstags ist die immer geschlossen. Na ja, wann das mal hier so richtig losgehen soll, das weiß kein Mensch! Da ist so ein Unternehmen aus Bayern, verschiedene reiche Leute haben da ihr Geld reingebracht und praktisch als Betrieb sich hier eingekauft. „Communitas München“ nennt sich das. Das Schloß wollen sie zum Luxushotel umbauen. Und dieses Hotel und die Behinderten, nein, das paßt nicht zusammen. Also weg mit ihnen.

Der VEB Strömungsbau wurde auch verkauft und gleich darauf ist der größte Teil entlassen worden oder, wie bei uns, Altersübergang. Es waren an die dreitausend, mit dem Zweigwerk in Dresden. Man hat diese Strömungsgetriebe hergestellt, dann hydraulische Getriebe für Förderanlagen, es wurden Ölfeuerungsanlagen gebaut, also große Brenner, Anlagen für Kraftwerke, und auch deshalb war's etwas geheim, Notstromaggregate, für Post, Krankenhäuser, NVA und Staatssicherheit. Aber das war ja alles nach 61. Vorher war das hier ein Flugzeugwerk, einer der modernsten Betriebe der DDR überhaupt, heute darf man darüber ja reden. Alles neue Maschinen, aus Schweden, aus der Schweiz gekauft. Und dann die Schließung! Schuld daran war eine rein politische Sache und zwar wegen dem Direktor, der damals hier war.

Das muß man wissen, das waren ja damals alles Leute, die vorher in der SU waren, die sind als Spezialisten damals mitgenommen worden – wie die Amerikaner auch den von Braun und solche Leute mitgenommen haben –, das waren alles Leute von BMW, von Junkers, Raketenleute und so was. Und als die wieder zurückkamen, da wollte man natürlich nicht, daß die nach dem Westen rübergingen, sondern hat ihnen gesagt, daß sie hier Flugzeuge bauen können. Da wurde dann in Dresden die 152 gebaut, eine vierstrahlige Düsenmaschine, das war das Modernste, was es überhaupt gab zu der Zeit, die ist dann auch geflogen worden. Das war 'ne reine Passagiermaschine, überhaupt nix Militärisches, jedenfalls wollten sie die weltweit vertreiben, und plötzlich stellte sich heraus, daß der technische Direktor hier von uns der Spionage überführt worden war. Den hatte man an der Grenze verhaftet. Und es kam auch raus, daß er von der UdSSR aus damals schon Spionage betrieben hatte für die BRD. Irgendwie ist er dann ausgetauscht worden und ging in den Westen rüber. Jedenfalls war man der Meinung, daß sowieso alles verraten und verkauft war, und hat gesagt: Schluß! Von da an haben dann die Strahlenturbinenspezialisten Strömungsanlagen gebaut, es kam ja dann auch keiner mehr raus. Ich war von Anfang an dabei, von der „J 6“ an, und später die ganzen Jahre hatte ich dann praktisch hier die Elektromontage gehabt, wir haben gebaut, was kam. Nun ist es vorbei damit.

Aber wir haben ja noch Glück gehabt, es gibt Jüngere, die rennen vormittags in die Stadt, nachmittags in die Stadt, trinken im Getränkestützpunkt oder sonstwas...furchtbar, wenn sie so alleinstehen und aus allem raus sind. Mit 50, 55 ist zu zeitig, mit 60, 65 mag das eher angehen. Wir haben unten im Hochhaus unsere Zweiraumwohnung, und den ganzen Sommer über sind wir eben hier oben, so ist es erträglicher. Arbeit haben wir ja genug.“

Zwei Jahre später. Was ist mittlerweile passiert auf dem Sonnenstein? Die Mauer wurde abgerissen. 1995 der Park (erstmals seit 1811) öffentlich zugänglich gemacht. Einige historisch nicht kontaminierte Gebäude wurden hergerichtet. „Communitas“ ist trotz schleppender Geschäftserfolge „vor Ort“ geblieben. Die Erteilung eines Großauftrags an sie steht unmittelbar bevor: Bau eines Amtsgerichts gegenüber der Anstaltskirche. In Krematorium und Gaskammer wird restauriert, der alte Zustand (nach der Spurenverwischung von 1942) wiederhergestellt. Am Volkstrauertag 1997 soll die Gedenkstätte eröffnet werden. Die Behinderten dürfen zukünftig dort ihre Lohnarbeit verrichten, wo früher die Schreibtischtäter saßen, oder anders ausgedrückt: „Die geschützten Werkstätten sind als ,aktives Gedenken‘ in den Häusern 13, 14, 18 vorgesehen.“ Bis jetzt sind Werkstätten, Schule und Wohnheim aber wie gehabt im alten Schloß.

Es wirkt alles ruhig. Hinter den Kulissen aber ist ein erbitterter Kampf zwischen den Interessengruppen entbrannt, der jedoch nicht wie üblich – Bürgerinitiativen maulen, Investoren erschließen, das Land gibt Fördermittel – über die Bühne geht. Denn wegen der „besonderen Problematik des Standortes“ demonstrieren die Beteiligten „Dialogbereitschaft“ und die „Bereitschaft, sich den Fragen der Vergangenheit aktiv zu stellen“. Das führt, angesichts geradezu divergierender Interessen, zu bizarren Aufführungen der Krämerseelen. Die Beteiligten sind schnell aufgezählt: 1. Pirna/Freistaat Sachsen, 2. „Communitas“ Projektentwicklungsgesellschaft (der Investor), 3. Arbeiterwohlfahrt/Werkstatt für Behinderte, 4. Sächsische Gedenkstättenstiftung, 5. Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. Der Investor ist, aus naheliegenden Gründen, nicht besonders interessiert an einer Gedenkstätte. Die Stadt ringt wie der Investor um Form und Umfang der bereits beschlossenen Gedenkstätte. Die Arbeiterwohlfahrt ringt um bessere Formulierungen für ihre Behindertenwerkstatt über der Gaskammer. Obgleich sie zwischen allen Stühlen sitzt, wäre ihr wohl doch, wie den Erstgenannten, eine würdige Gedenktafel am Haus lieber als eine Gedenkstätte. Ganz anders liegen die Dinge für die übrigen zwei Beteiligten, die durch ein geradezu existentielles Interesse an der Gedenkstätte miteinander verbunden sind. Vereinszweck des Kuratoriums – einst von guten Menschen nach der Wende gegründet – ist der Aufbau einer Gedenkstätte, die man natürlich dann auch personell, technisch und wissenschaftlich betreuen will. Das heißt: Ringen um ABM- und BAT-Stellen, um öffentliche Gelder und einen weihevoll-bürokratischen wie akademisch-sachlichen Tonfall in Sitzungen und Vereinsnachrichten. Die „Sächsische Gedenkstättenstiftung“ ringt darum, daß eine Forschungs- und Gedenkstätte ersten Ranges geschaffen wird. Die Stiftung ist, wie fast das gesamte Gedenkstättenwesen der neuen Bundesländer, in westlicher Hand. Gedenkstättenchef ist ein Historiker aus der Faschismusforschung (von dem im Rotbuch Verlag mal was über Wehrmachtsdeserteure erschien). Man darf annehmen, daß die Verwaltung von Gedenkstätten für die Opfer der Gewaltherrschaft in einem Bundesland ohne KZ für einen Faschismusforscher wenig Erfüllung bietet. Einzige Aufgabe von Rang war das DDR-Zuchthaus Bautzen. Das ändert sich nun mit dem Projekt einer Euthanasie-Gedenkstätte auf dem Sonnenstein in Pirna, das in Trägerschaft genommen und mit erheblichen Fördermitteln ausgestattet wurde.

Bei einem „Workshop Euthanasie“ trafen sich 1995 auf Einladung des Investors die Beteiligten zum klärenden Dialog. Einige der Äußerungen sollen nicht unzitiert bleiben:

Kuratorium Gedenkstätte e.V.: „Wir lassen nicht am Haus T 4 mit den Tötungskellern rütteln. Wir haben nicht umsonst für diese Gedenkstätte gekämpft. Im September 1992 haben uns drei Staatsministerien diese Stätte zugesagt.

Gedenkstättenstiftung: „Man kann wohl nicht an allen Standorten staatlicher Verbrechen Gedenkstätten errichten. Die Dimension nationalsozialistischer Verbrechen war hierfür zu groß. In Sachsen ist Pirna Sonnenstein jedoch ein exemplarischer Ort, der Ort in diesem Bundesland, der am unmittelbarsten mit den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten verbunden ist. Darum hat die Stiftung Sächsischer Gedenkstätten Pirna in den Katalog der zu fördernden Gedenkstätten aufgenommen. Nicht zuletzt deshalb soll auch hier der Sitz der Stiftung Sächsische Gedenkstätten sein.“

Arbeiterwohlfahrt: „Die Arbeiterwohlfahrt bekennt sich zu dem von drei Ministerien des Freistaates Sachsen formulierten politischen Willen, auf dem Sonnenstein eine Behindertenwerkstatt mit Gedenkstätte als ,lebendiges Denkmal‘ zu errichten.“

In einem Workshop „Solarenergie. Der Sonnenstein als Produktionsstätte für Solartechnik und alternative Energiegewinnung“ spielten weder Gedenkstätte noch Ursache eine Rolle. Jo Leinen, einer der Redner, ließ folgenden Satz fallen: „Der Großraum Dresden könnte die Brücke zwischen Ost- und Westeuropa für eine moderne Energieversorgung werden, der Sonnenstein in Pirna, mit seiner großen Tradition, ist eine geeignete Plattform für ein Zentrum erneuerbarer Energie.“

Den Wurzeln der Störungen im Energiefeld hingegen gingen sieben Geomantinnen und Geomanten auf den Grund. Ausgestattet mit den Instrumenten der modernen Esoterik wie Wünschelrute, Antenne, Pendel begingen sie eine Woche lang das Territorium der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt, um aus den Erdstrahlungen, Wasseradern, der mythischen und mineralogischen Beschaffenheit, die Besonderheiten dieses „Kraftortes“ herauszulesen. In einem „Workshop geomantische Untersuchung“ wurden die Ergebnisse präsentiert. Es geht dabei um rätselhafte Dinge, wie die schon erwähnten „Kraftorte“, auf die „tellurische Kräfte“ einwirken, in Form von „Drachen- und Schlangenenergien“ von „Erdströmen“ und „Strahlungen“. Die „Ley-Linien“ hingegen, worunter man sich quer durch die Landschaft verlaufende Linien vorzustellen hat, oder bisweilen auch die „Wege der Feen“, die „Wege der Drachen“ und die „Wege der Toten“ aus regionalen Sagen, verbinden die „Kraftorte“ miteinander (im Esoterikerjargon heißen die übrigens auch „Gedenkstätten“). Kurz, der Sonnenstein, so das Resümee, besitzt ein „herausragendes Potential für Technologie, Forschung und Kommunikation“. Allerdings muß man zuvor noch die „mit problematischer, historischer Patina beladene Erde reinigen“. Denn: „Eine Erklärung für diese Verbrechen an einem so positiv aufgeladenen Ort könnte eine ,unterschwellige‘ Zielsetzung sein, diesen durch ein negatives Stigma auf Dauer so zu belasten, daß er nicht mehr wertvoll zu nutzen scheint. Aus geomantischer Sicht ist mit diesem furchtbaren Schatten mit allergrößter Sorgfalt und hoher Sensibilität umzugehen.“

Das tat der Investor. Er ließ die T 4-Ausstellung aus der Kirche entfernen und veranstaltete ein reinigendes Konzert.