■ Teuer und überflüssig: Mit der geplanten Nato-Ost- erweiterung treibt der Westen Rußland ohne Not in die Enge
: Neue Zeiten, alte Feindbilder

Wer Überredung für Diplomatie hält und darüber hinaus an den Umschlag von Quantität in Qualität glaubt, braucht sich in diesen Tagen um den Frieden in Europa keine Sorgen zu machen. Soviel Auftrieb in Moskau war nie – zur Zeit entwickelt sich der Kreml geradezu zu einer Pilgerstätte europäischer und amerikanischer Außenpolitiker. Dabei ist eines schon jetzt klar: Solange die Nato lediglich ihren Reiseetat erhöht, wird sich an der russischen Ablehnung der geplanten Osterweiterung zu Recht nichts ändern. Denn keine der Fragen, die die Nato-Osterweiterung aufgeworfen hat, ist bisher auch nur annähernd beantwortet ist.

Bislang hat sich die Nato nur auf einige wenige Essentials festgelegt, die nun der politischen Führung in Moskau schmackhaft gemacht werden sollen. Ausgehend von der Prämisse, die Aufnahme neuer Staaten in Osteuropa diene der Stabilität auf dem Kontinent, will das Militärbündnis vorerst darauf verzichten, in den Beitrittsländern Atomwaffen und alliierte Truppen zu stationieren. Außerdem soll die Zusammenarbeit mit Rußland intensiviert werden – die neue US- Außenministerin Albright sprach von einer gemeinsamen russisch- westlichen Brigade für Peacekeeping-Einsätze – und einem neuen Konsultationsgremium, in dem Rußland gleichberechtigt vertreten sein soll. Das westliche Paket soll als völkerrechtlich unverbindliche Charta ausgearbeitet und feierlich unterzeichnet werden. Dagegen steht die grundsätzliche Frage in Moskau, warum ein Militärbündnis aus den Zeiten des Kalten Krieges nun noch ausgebaut werden soll und warum die Nato sich weigert, mit Rußland einen verbindlichen Vertrag über die zukünftige Zusammenarbeit abzuschließen.

So wie die Debatte im Westen bislang geführt wurde, ist absehbar, daß sich, obwohl niemand ein Interesse daran hat, das Verhältnis zu Rußland, quer durch alle politischen Fraktionen, dramatisch verschlechtern wird. Warum das so ist, wird beispielsweise an dem kürzlich bekannt gewordenen deutsch- französischen Sicherheits- und Verteidigungskonzept deutlich. Zur Begründung einer engeren militärischen Kooperation beider Länder gehen Präsident und Kanzler davon aus, „daß im Osten Europas noch für lange Zeit ein überdimensioniertes militärisches Arsenal fortbestehen wird, dessen Entwicklung und Kontrolle weiterhin Anlaß zur Sorge geben.“

Auf einer außenpolitischen Tagung in Berlin erläuterte vor wenigen Wochen Rußlands derzeit prominentester Reformer, Jegor Jawlinski, wie die Debatte um die Osterweiterung der Nato insbesondere im demokratischen Spektrum der russischen Parteien ankommt. Er und seine politischen Freunde fühlen sich vor den Kopf gestoßen, da sie die westliche Sicherheitsdebatte als Indiz verstehen, daß der Westen der Demokratisierung Rußlands noch immer mißtraut. Formulierungen, wie sie jetzt in dem deutsch-französischen Abkommen verwendet wurden, müssen dieses Gefühl in Rußland noch verstärken.

Seit die Sowjetunion implodierte, ist klar, daß europäische Verteidigungspolitik sich grundlegend ändern muß. Obwohl sich die Situation objektiv dramatisch verändert hat, argumentieren alle Seiten allerdings nach wie vor in der Logik des Kalten Krieges. Das beginnt in den USA: Statt die Frage zu beantworten, warum die bestehende Nato um einige osteuropäische Staaten erweitert werden soll, läßt sich Clinton im Wahlkampf von den Republikanern unter Druck setzen und verkündet nach einer einsamen Entscheidung, die USA strebten nun schnellstmöglich danach, den Gewinn des Kalten Krieges einzustreichen und die Nato nach Osten zu erweitern. Für das Argument der russischen Demokraten, damit würde nur der nationalistische und altstalinistische Flügel in Moskau gestärkt, hat der frühere US-Botschafter in Bonn, Richard Burt, nur Verachtung übrig. Mit diesem Argument, so Burt bei einer Veranstaltung in Berlin, sei schon früher immer versucht worden, die USA unter Druck zu setzen. Davon dürfe man sich nicht beeindrucken lassen.

Aber auch in Rußland ist die Debatte nicht viel weiter. Auch hier wird vorrangig unter dem Gesichtspunkt geurteilt, ob die einstige Supermacht UdSSR weiter gedemütigt wird oder nicht. Anregungen, wie denn eine europäische Sicherheitspartnerschaft in einer Zeit nach den Militärblöcken aussehen könnte, gibt es kaum.

Das setzt sich in den osteuropäischen Ländern fort. Der Wunsch selbst früherer Kommunisten, ihr jeweiliges Land nun möglichst schnell in die Nato zu überführen, ist ausschließlich geschichtlich begründet. Dies ist zwar verständlich, aber weder durch die aktuelle Lage gerechtfertigt noch mit einem zukunftsfähigen Konzept verbunden.

Wenige Monate, bevor Madame Albright und Señor Solana Europa sicherheitspolitisch vollends in die Sackgasse manövriert haben, formiert sich jetzt endlich doch Widerstand innerhalb und außerhalb des Apparats. Die Kooperationspartner Chirac und Kohl drängen darauf, im Rahmen eines quasi vorgezogenen Gipfels, bei dem nur die Chefs der vier größten Nato-Staaten mit Rußlands Jelzin zusammentreffen sollen, einen Kompromiß auf höchster Ebene zu versuchen. Andere plädieren dafür, den selbstgeschaffenen Druck durch eine Verschiebung des Nato-Gipfels zu verringern und dadurch Raum für neue Ansätze zu schaffen.

Ein großer Teil des US-amerikanischen außenpolitischen Establishments ist gegen eine Erweiterung. Die stockkonservative Rand Corporation hat ausgerechnet, daß die Erweiterung die Allianz in den nächsten zehn Jahren mindestens 15, leicht aber auch 110 Milliarden Dollar kosten könnte. Die Faustregel dabei ist: Je konfrontativer gegenüber Rußland, desto teurer die Erweiterung.

Damit ist der Kern des Problems definiert. Alles Reden über die „neue Nato“ bleibt solange Kosmetik, wie Rußland als potentieller Gegner behandelt wird, dem eigentlich nicht über den Weg zu trauen ist. Der grundlegende Unterschied zwischen einem letztlich auf Konfrontation ausgerichteten Militärbündnis und einem neuen Sicherheitssystem für Europa entscheidet sich an der Frage, ob Rußland dabei ist oder ob es ausgehklammert bleibt. Die Nato-Osterweiterung kann erst dann für Stabilität auf dem Kontinent sorgen, wenn das Ziel letztlich die vollständige Integration Rußlands ist. Wenn schon Osterweiterung, dann richtig. Alles andere sind Gebietsgewinne gegenüber dem Feind von morgen. Jürgen Gottschlich