Vitrolles steht stramm, Paris steht auf

■ Zwei Wochen nach dem Wahlsieg der Rechtsradikalen im südfranzösischen Vitrolles demonstrieren in Paris rund 100.000 gegen das neue Ausländergesetz. Polizei vertreibt Chinesen aus Kirchenasyl. Parlament debattiert morgen

Paris (taz) – Ziviler Ungehorsam, Patenschaften für Immigranten ohne Aufenthaltspapiere und viele neue Demonstrationen – so stellen sich GegnerInnen der französischen Ausländergesetzgebung die Zukunft vor. Nachdem sie am Samstag in Paris mit rund 100.000 Demonstranten eine gigantische Menschenmenge auf die Straße gebracht haben, wollen sie versuchen, morgen, wenn das französische Parlament das umstrittene Gesetz von Innenminister Jean-Louis Debré in zweiter Lesung debattiert, erneut Stärke zu beweisen. „Wenn die Regierung die Freiheit einschränkt, wird Widerstand zur Pflicht“, begründen sie dies.

Dreihundert meist chinesische Immigranten zeigten bereits am Wochenende, in welche Richtung es gehen kann. Nach der großen Pariser Demonstration besetzten sie eine Kirche am Ostrand der Stadt. Wie zuvor afrikanische Kirchenbesetzer wollten sie damit ihrer Forderung nach Aufenthaltspapieren Nachdruck verleihen. In einem Flugblatt erklärten die Besetzer, die wirtschaftliche Lage Frankreichs und der Anstieg der Arbeitslosigkeit seien nicht ihre Schuld. Die Priester von St. Jean-Baptiste hatten Verständnis. In einer Mitteilung unterstrichen sie, daß sie den Kampf der Einwanderer verstünden. Ihr Predigttext – „Menschen in extremer Notlage“ – war schon fertig, als gestern im Morgengrauen die Polizei die katholische Kirche räumte. „Friedlich“, wie das Innenministerium betonte, das im vergangenen Jahr eine andere Kirche unter Einsatz von Tränengas und schwerem metallischen Gerät hatte räumen lassen.

Zwei Wochen nach dem rechtsextremen Wahlsieg im südfranzösischen Vitrolles, ist damit das andere Frankreich auf die Straße zurückgekehrt. Mit rund 100.000 Demonstranten in Paris und mehreren tausend in verschiedenen Provinzstädten vom Samstag war es die bislang größte Mobilisierung gegen die französische Ausländergesetzgebung. Von diesem Erfolg waren selbst die Organisatoren der Demonstration, Filmemacher und andere Intellektuelle sowie zahlreiche linke Organisationen, überrascht.

Regierung und Polizei hingegen versuchten, das Ereignis herunterzuspielen. Die Polizei erklärte, sie habe 33.000 Demonstrationsteilnehmer in Paris gezählt – die Veranstalter sprachen von 150.000. Die Führung der neogaullistischen Partei sprach von einem „Scheitern“ der Demonstration und nannte den Vergleich des geplanten neuen Ausländergesetzes mit dem institutionalisierten Antisemitismus des Vichy-Regimes „skandalös“.

Tatsächlich zeigten mehrere Umfragen im Auftrag französischer Tageszeitungen am Wochenende, daß das Lager der Befürworter einer repressiveren Ausländergesetzgebung gewachsen ist. Laut dem konservativen Figaro befürworten 67 Prozent der Franzosen das Debré-Gesetz, die liberale Libération ermittelte eine 59prozentige Zustimmung zu einer Verschärfung der Meldepflicht für Ausländer aus visumpflichtigen Staaten.

Demonstranten in Paris versicherten, daß sie zu keiner Meldung ausländischer Gäste bereit seien. In der Provinzstadt Dijon trugen viele ein Foto der im Konzentrationslager umgekommenen Jüdin Anne Frank bei sich. Auf der Bildzeile fragten sie: „Würden sie diese Nachbarin denunzieren?“ Dorothea Hahn Bericht Seite 8