Biologische Dampfwalze

■ Mit dem Klon werden die Zuchtphantasien real

Es ist die aufregendste wissenschaftliche Nachricht dieses Jahres, vielleicht dieses Jahrzehnts: Erstmals ist von einem ausgewachsenen Lebewesen ein Duplikat neu erschaffen worden. Das Individuum ist untergegangen, es kann beliebig vervielfältigt werden. Mit dem Klon als zeitlich verzögertem Zwilling, Drilling, Mehrling geht die Einzig- und Eigenartigkeit dahin.

Worüber erschrecken wir? Daß plötzlich jene Zuchtphantasien wahr geworden sind, die als schlimmste Variante im Möglichkeitsspektrum der Biotechnologie ganz oben auf der Abschreckungsliste standen? Über die rasende Geschwindigkeit, mit der sich die Welt verändert? Über das ethisch-moralische Vakuum, das in solchen Augenblicken mit Händen zu greifen ist? Vermutlich über alles zusammen. Ganz gewiß aber über die Schnelligkeit, mit der in der Wirklichkeit über uns hereinbricht, was soeben noch als Science-fiction galt. Und tatsächlich haben die wissenschaftlichen Thinktanks diese Entwicklung bis gestern ja heftig bestritten.

Mit der bisher schon üblichen Zwillingszeugung durch Teilung einer befruchteten Eizelle hat die jetzt vollzogene Klonierung nichts zu tun. Das entscheidend Neue ist, die Duplizierung eines erwachsenen Lebewesens mit einer beliebigen Körperzelle. Jedes erfolgreiche Rennpferd, jedes liebgewonnen Schoßhündchen, jede Spitzenkuh könnte also unendlich oft kopiert werden. Und natürlich – wenn auch nicht „natürlich“ – jeder Mensch.

Die übliche Arie, daß dieses Experiment ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken dient, macht alles noch bedrohlicher, weil diese Versicherung bereits die nicht-wissenschaftliche Anwendung antizipiert. Entscheidend ist: Der Klon ist da. Die Technik ist da. Damit ist ein entscheidender Schritt auf jenem Weg vollzogen, den der Publizist Claus Koch die „Neuplanung der Gesamtheit des Lebens“ nennt. Und die scheint mit der Gangart einer Dampfwalze näherzurücken.

Die ersten Reaktionen auf den schottischen Schafsklon zeigen, daß auch diese Entwicklung keinen Aufstand befürchten muß. Statt dessen gibt's wohlige Grusler und flotte Sprüche: „Und dann triffst du dich morgens im Büro.“ Es geht also heiter weiter, auch wenn Chargaffs Wort von der „Bestialisierung der Wissenschaft“ von immer mehr Menschen genauso empfunden wird. Manfred Kriener