In Bulgarien drohen Hungerrevolten

In den Krankenhäusern des Landes sind selbst Brot und Mehlsuppen rationiert. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der offiziellen Armutsgrenze von 10 Dollar im Monat  ■ Aus Wien Karl Gersuny

Die Schlagzeilen sprechen für sich: „Erste Hungertote – wie viele werden noch folgen?“, „Wir wollen Brot“, „Brot, Brot, Brot“. In den bulgarischen Medien dreht sich seit Tagen alles nur noch ums tägliche Brot, eine Horrormeldung folgt der anderen. So starben angeblich zwei Kinder in der Nacht zum Montag in einem Sofioter Waisenhaus an Unterernährung, da die Betreuer den Kindern seit drei Wochen nur noch Tee und stark verdünnte Maissuppen verabreicht hätten.

Auch in den meisten Krankenhäusern des Landes würden Brot und Mehlsuppen rationiert, meldet das staatliche Fernsehen. Gerichte aus Kartoffeln und Mais würden nur noch am Wochenende ausgegeben. Die Armut in diesem Balkanstaat hat den größten Teil der Bevölkerung bereits vor Wochen zwangsweise zu Vegetariern gemacht. Einer Untersuchung der Sofioter Universität zufolge leisten sich aufgrund drastischer Preiserhöhungen zum Jahreswechsel immer weniger Bulgaren Fleisch und Gemüse. Bereits im Januar sollen elf Prozent der Bulgaren auf Käse, 30 Prozent auf Kosmetik und 48 Prozent auf Schokolade ganz verzichtet haben. Zwei Drittel der Bevölkerung konnten mit ihrem Einkommen nur Brot und Milch kaufen und lebten unter anderem von eingemachten Konserven. Als sich in der vergangenen Woche das Gerücht verbreitete, die eisernen Reserven an Getreide und Mehl in den staatlichen Silos seien aufgebraucht, kam es landesweit zum Sturm auf Bäckereien – und zu wilden Spekulationsgeschäften der Bauern und Bäcker. Seit Wochenbeginn weigern sich die meisten Bäckereien, überhaupt noch Brot zu backen. Sie wollen abwarten, in welchem Umfang die Regierung die Preise für Grundnahrungsmittel freigibt, um dann zu entscheiden, ob sich das Geschäft lohnt, die eigenen Notreserven anzugehen und möglicherweise Weizen aus der Türkei, Rumänien oder Serbien zu importieren. Für den Internationalen Währungsfonds (IWF) ist die Freigabe der Lebensmittelpreise und ein allgemeiner Preisanstieg auf westeuropäisches Niveau die einzige Möglichkeit, um das bulgarische Wirtschaftschaos noch in den Griff zu bekommen und Investoren ins Land zu locken. Nur bei einer solchen Schocktherapie, ließen gestern IWF-Gesandte in Sofia verlauten, sei der Währungsfonds zusammen mit Weltbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau bereit, dem Balkanstaat sofort Kredite in Milliardenhöhe zu genehmigen. Das Dilemma der bulgarischen Staatskrise wird damit jedoch nicht beseitigt: Die Staatskassen sind leer, die Arbeitslosigkeit liegt je nach politischer Interpretation zwischen 18 und 35 Prozent. Schon jetzt lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der offiziellen bulgarischen Armutsgrenze von 10 Dollar im Monat, mehr als die Hälfte unter jenem Niveau, das allgemein in Osteuropa als Armutsgrenze angesehen wird. Weitere Preiserhöhungen ohne Aussicht auf eine verbesserte Beschäftigungslage können nur zu Hungerrevolten führen. Nur einer zeigte sich gestern großzügig. Multimilliardär George Soros ließ dem bulgarischen Präsidenten eine Spende von 1,8 Millionen Dollar zukommen, während EU-Diplomaten in Brüssel vorerst ohne konkretes Ergebnis darüber berieten, wie „die Not in Bulgarien“ gelindert werden könne.