Tasten-Philosophie auf dem Flügel

■ Der Pianist Alfred Brendel versetzte sich in der Glocke mit Leib und Seele in Schuberts Klavierwerk

Nun hatte Bremen im Schubert-Jahr 1997 – der Wiener Komponist ist 1797 geboren – den Pianisten zu Gast, der für Franz Schuberts Werk nichts weniger als ein Pionier gewesen ist: Alfred Brendel – und alle, alle kamen. Schuberts überlange Sonaten wurden bis in unser Jahrhundert hinein mißverstanden, weil man sie an den Sonaten Beethovens maß, mit denen sie jedoch gar nichts zu tun haben. Als einer der ersten kämpfte der inzwischen 66jährige Brendel mit Erfolg gegen dieses Mißverständnis an. Seine „Vorgänger“ Artur Schnabel und Eduard Steuermann blieben in ihrer Generation Ausnahmen, über die man nach Brendels Angaben „den Kopf schüttelte“.

Zweimal hat Alfred Brendel Schuberts Gesamtwerk eingespielt, 1987 eine aufsehenerregende Schubert-Welt-Tournee unternommen, dazu viel Klug-Analytisches und trefflich Emotionales geschrieben in einer bemerkenswerten Aufsatzsammlung „Nachdenken über Musik“.

Für den „Tastenphilosophen“, den „Metaphysiker am Flügel“ galt es in der ausverkauften Glocke zunächst einmal, die Raschler und vor allem die Huster still zu kriegen: Brendel fixierte sie sekundenlang, bis er wirklich in absoluter Stille anfing und „seinen“ Schubert spielte. Er versteht sein Werk als eine permanente Dialektik zwischen Ordnung und Abweichung, zwischen beglückender Lyrik und der schmerzhaften Erkenntnis, daß es eben dieses Glück nicht mehr gibt.

Unnachahmlich der Zauber seines Legatos, in das jäh Katastrophen hineinfahren. Unnachahmlich seine Anschlagskunst, wenn Schuberts Wiederholungen wie ein Szenenwechsel in immer anderes Licht regelrecht getaucht werden. Unnachahmlich, wenn er solch seraphische Oasen wie im Kopfsatz der späten B-Dur-Sonate stört mit kleinsten, aber sehr exakt komponierten Geräuschpartikeln. Gegen Beethovens immer logische Architektonik stehen die harten Schnitte in Schuberts alles andere als holder Kunst, steht der Aufeinanderprall immer wieder überraschender Ausdrücke. Als wolle Brendel dies auch optisch zeigen, bleiben seine Hände auf einmal in der Luft stehen. Als wolle er Schuberts aussichtsloses Singen noch unterstützen, erlaubt er sich auch Rubati und Tempoänderungen, die in der Partitur nicht stehen. Bei der Kunst- und Lebenserfahrung und dem pianistischen Können eines Alfred Brendel nimmt man das willig in Kauf, geraten ihm derartige Dinge ja nicht zum Selbstzweck, sondern zur Darstellung von Schuberts zerklüfteten Seelenlandschaften. Geschenkt also wie so manches überhastete Tempo und wie die uns unterschlagene Wiederholung der Exposition der B-Dur-Sonate.

Im Sinne eines solchen Spiels versah der Pianist die frühe Sonate in a-Moll, op. 164 bereits mit den Aspekten des Spätwerks: Immer wieder und ohne Aussicht auf Fortgang beginnt das Kopfthema, auch die Durchführungsversuche brechen immer wieder ab. Das bedrohlich pochende Wandern im zweiten Satz – in der linken Hand – konfrontiert Brendel in der rechten Hand mit einer melodischen Schönheit ohnegleichen. Mit den vier Impromptus op. 142 gestaltet Brendel bis in seine eigene Körperhaltung hinein einen dramatischen Kosmos der Zerrissenheit.

Frisch wie eben komponiert wirken seine Wiedergaben und forderten im ausverkauften Meisterkonzert ovationsartigen Jubel für einen der großen Pianisten dieses Jahrhunderts hervor.

Ute Schalz-Laurenze