Zurück in die Einbahnstraße

■ Das Suchen nach der besten Website hat ein Ende: Die Software "Marimba" verspricht, das ganze Internet zu einem weltweiten Fernsehsender zu machen

Revolutionen gehören zum Internet wie die Flüsse, die im Frühjahr über die Ufer treten. Alle Jahre wieder muß der Homo digitalis von einer Last befreit werden, die er noch gar nicht so recht bemerkt hat. Zum Beispiel die dicken Festplatten: Schnee von gestern, hieß es noch 1996. Jetzt kämen die Netzcomputer, die NCs. Die saugten ihre Programme direkt aus dem Netz und brauchten gar keine Festplatten mehr. Die Programmiersprache Java werde es möglich machen und so nebenbei den Anwender vom Zwang zum Computerwissen befreien.

Welch eine Vision! Die ersten Ergebnisse des Innovationsschocks zeigten sich schon bald in Gestalt von hüpfenden Kapuzenmännchen, Tetris-Spielen und interaktiven Malbüchern für Kinder unter sieben. Tatsächlich konnte man sie direkt aus dem Netz herunterladen und sogleich benutzen. Aber deshalb hat doch noch niemand sein Microsoft-Office samt Festplatte weggeworfen.

Das war auch gut so, denn die jetzt drohende Befreiung braucht Festplatte, und zwar nicht zu knapp: Kim Polese, Mitinitiatorin der 1996 gegründeten Softwareschmiede Marimba und Vortänzerin der jüngsten Netzrevolution, ist dabei, eine neue Übertragungsmethode für Software und Daten aller Art unters Volk zu bringen. „Dies ist das letzte Programm, das Sie jemals installieren müssen“, lockt die Frau, die als Marketing-Talent bei Sun schon aus Java ein mediales Großereignis gemacht hatte. Jetzt will sie uns von der Qual des Surfens befreien.

Die Homepage, die von selbst ins Haus kommt

In der faszinierenden Zukunft, die gerade begonnen hat, muß niemand mehr durch die Weiten des Web klicken, um die Lieblingsseiten auf Änderungen abzuklappern. Mit „Castanet“, dem als Innovationswunder gepriesenen Browser- und Webserver-Ersatz von Marimba, werde das Netz erheblich entlastet, heißt es. Alles, was sich bisher auf eine Homepage packen ließ, müsse nicht mehr geholt werden, sondern werde direkt auf den Desktop des Nutzers geliefert. Castanet, eine Wortschöpfung aus Broadcasting und Net, zeigt, wohin es gehen soll: Zurück zum gewohnten Senden und Empfangen, zurück in die übersichtliche Welt des Fernsehens und Rundfunkens

Und das geht so: Anstatt eines Web-Browsers gibt es den sogenannten Tuner, den Empfänger, der über eine Netzverbindung Kontakt zu einem „Transmitter“, also dem Sender aufnimmt und einen „Kanal“ installiert, den der Nutzer „abonniert“.

Zwar lassen diese Worte an Kabelkanäle denken. Tatsächlich handelt es es sich jedoch doch wie bisher nur darum, die Inhalte eines Anbieters zu laden. Das können (Java-)Programme sein, aber auch in Java-Transportmäntelchen verpackte HTML-Seiten. Die Dateien werden auf der Festplatte gespeichert, anders als die bisher schon über das Netz erhältlichen Java-Programme (Applets), die gespeichert werden.

Bislang werden Applets jedesmal neu installiert – eine wegen der Ladezeiten kaum zumutbare Einschränkung. Ein Castanet-Kanal dagegen soll die Festplatte des Anwenders zum Parkplatz von Fremdprogrammen machen dürfen und dennoch Sicherheit bieten – ein Fortschritt, an den zu glauben schwerfällt.

Zweiter wesentlicher Vorteil des Marimba-Konzepts ist die Möglichkeit regelmäßiger Aktualisierungen der Kanäle. In vom Anbieter festzulegenden Abständen nimmt der Tuner selbständig Kontakt zum Transmitter auf und aktualisiert den Kanal. Die vorhandenen Daten werden verglichen und lediglich diejenigen kopiert, die sich verändert haben. Ein neues Internet-Übertragungsprotokoll, das Marimba entwickelt und zur Patentierung angemeldet hat, ermöglicht den zeitsparenden Datenabgleich. Kurzfristiges Updaten vieler Kanäle durch nur einen einzigen Transmitter ist deshalb möglich: 995 Dollar kostet die Software für bis zu 100 User pro Stunde, unbegrenzt viele User versorgt eine Programmversion für 25.000 Dollar.

Die von Poleses PR-Maschinerie gepowerte Rundfunkmetaphorik zeigt sich bei genauem Hinsehen als bloßes Wortgeklingel, das glauben machen soll, was im realen Internet-Leben nun mal nicht zu haben ist: massenmediale Übersichtlichkeit, fest an wenigen Sendern hängende, relativ passive Empfänger. Morgenluft wittern sollen die Produzenten großer Entertainment-Sites, die News- Anbieter und die Werbewirtschaft: Ein abonnierter Kanal, der die Inhalte verläßlich auf die Schreibtische der Besteller schleudert, repräsentiert eine weit glaubhaftere Kundenbindung als ein Bookmark, das Erinnerungszeichen in einem Browser.

Die Programmkanäle verstopfen das Netz

Es wundert nicht, daß die Tunersoftware für das künftige Massenpublikum kostenlos im Netz verteilt wird. Die Produktion von Kanälen ist allerdings nicht mehr so kostengünstig wie das Gestalten von Webseiten. Das Java-Autorentool „Bongo“ zum Verfassen von Castanet-Kanälen kostet immerhin 495 Dollar. Die Szene der Homepagebastler dürfte das hinreichend abschrecken.

Netzentlastung? Im Gegenteil. Neben Infos und Unterhaltung soll mit dem neuen System auch Anwendungssoftware übers Netz vertrieben und auf dem neuesten Stand gehalten werden – der zweite angeblich revolutionäre Aspekt des Marimba-Vorstoßes. Während einer Netzverbindung würde etwa die Textverarbeitung Kontakt zu ihrer Herkunftsfirma aufnehmen und sich die neuesten Features und Fehlerkorrekturen herüberholen.

Was würde dann aber aus der vielgerühmten Netzentlastung? Der geringere Surf-Verkehr durch Leute, die ihre Lieblingsseiten absuchen, würde um ein Vielfaches aufgewogen durch die unzähligen Programme und Infokanäle auf unzähligen Computern, die sich sofort aktualisieren wollen, sobald ein Netzkontakt zustande kommt. Ein Mensch hätte kaum mehr Gelegenheit, überhaupt noch ins Netz zu gelangen.

Und wer hat schon die Zeit, gute Werbeargumente noch mal mit vollem Großhirnpotential zu checken? Kim Polese ist eine Meisterin ihres Metiers und schafft es locker, dem abflauenden Net-Hype immer wieder neuen Aufwind zu geben. Schon als sie im Februar letzten Jahres zusammen mit Shaio, van Hoff und Payne, drei Programmierern aus dem Java-Entwicklungsteam, Sun den Rücken kehrte und Marimba gründete, ging ein Raunen durch die Szene. Kim hatte Java den Namen gegeben und war fast allein verantwortlich für den Koffeinschock, den die Einführung von Java der Softwarebranche versetzte. Van Hoff wird gern zitiert mit seinem Spruch: „Ohne Kim wären wir nur ein Haufen Computerfreaks.“

Binnen unglaublich kurzer Zeit steht jetzt mit Castanet die erste Produktlinie, und es vergeht kaum eine Woche, ohne daß neue Kooperationen bekanntgegeben werden, darunter mit Größen wie Corel, Apple und Netscape. Schade, daß die Frau, die diese Erfolgsstory hauptsächlich schreibt, ein Programm vermarktet, das nicht hält, was es verspricht – mit Worten und Metaphern, die zurück in die Vergangenheit weisen. Claudia Klinger

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