■ ÖTV-Chef Mai plädiert für solidarische Arbeitszeitpolitik
: Wie Arbeitsplätze entstehen können

Man reibt sich die Augen und liest den dpa-Text zweimal: Für neue Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst hat der ÖTV-Chef Herbert Mai Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich angeboten. Das ist in mehrfacher Hinsicht couragiert und weitsichtig. Der ÖTV-Chef will nicht nur die Jobs im öffentlichen Dienst sichern, sondern traut sich sogar, angesichts der 4,6 Millionen Arbeitslosen neue Arbeitsplätze zu fordern. Mai argumentiert zu Recht, daß der öffentliche und halböffentliche Dienst, die Kirchen und Wohlfahrtsverbände mit zirka 8,2 Millionen Beschäftigten ein „riesiger Bereich“ seien, wo solidarische Arbeitszeitpolitik praktiziert werden könnte. Zudem läßt er keinen Zweifel, daß die unteren Einkommensgruppen in besonderer Weise zu schonen sind. Falls sich Mai mit seiner Arbeitszeitumverteilungsstrategie durchsetzt, könnten – tarifvertraglich geregelt – 300.000 bis 400.000 neue Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätze herausspringen.

Die ersten Reaktionen auf die Mai-Vorschläge lassen erahnen, wie die Knüppel und sanften Auszehrungsstrategien aussehen. Innenminister Kanther träumt ungebrochen vom schlanken Staat als Wagenburg. Über arbeitsplatzsichernde Maßnahmen könne man sprechen, über neue Arbeitsplätze nicht, so Kanther. Das ist die blanke öffentliche Verantwortungslosigkeit, die den oft privilegierten öffentlichen Dienst schützt und sich einen Dreck darum kümmert, ob junge Leute überhaupt noch eine Chance im öffentlichen Dienst haben (der öffentliche Dienst schließt mal gerade 2,9 Prozent aller Ausbildungsverträge ab).

Die Tarifverhandlungsführer aus den Ländern und Gemeinden, Schleußer (SPD) und Ruschmeier (SPD), reagierten offen und gesprächsbereit, ebenso die SPD-Ministerpräsidentin Simonis. Aus der ÖTV selbst wird eher Unterstützung, aber auch Widerstand signalisiert. Die DAG scheint sich selbständig der Mai-Linie annähern zu wollen.

Mais Vorstoß wird dann eine Chance haben, wenn es gelingt, Verzicht und neue Arbeitsplätze vertraglich wasserdicht zu koppeln. Denn die Betroffenen sind nur dann zur solidarischen Arbeitsumverteilung bereit, wenn sie nicht nur ein abstraktes Loch stopfen helfen, sondern neue Arbeitsplätze wirklich sehen. Freilich ist die Gefahr groß, daß Mais Vorschläge sanft dethematisiert werden und sich im Herbst erneut das unsägliche Tarif-Prozente-Ritual wiederholt. Denn weder für SPD noch für die Grünen scheint das Thema eine Herzensangelegenheit zu sein. Fazit: Das Schlimmste wäre, wenn diese Idee stillschweigend versickern würde. Peter Grottian

Der Autor ist Politologieprofessor an der FU Berlin