Jelzin läßt die Moskauer Gerüchteküche brodeln

■ Über die Zukunft von Premier Wiktor Tschernomyrdin wird heftig spekuliert

Präsident Jelzin ist zurück im Kreml, und auch die Gerüchteküche nahm ihre Arbeit wieder in vollem Umfang auf. Anfang der Woche hat der nach Herzoperation und Lungenentzündung um 25 Kilogramm erleichterte Präsident vor laufenden Kameras die Tätigkeit der Regierung barsch kritisiert. Zu Zeugen berief er Millionen Bürger, die außerordentlich unzufrieden seien. Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin legte er nahe, „die Struktur der Regierung zu reorganisieren“. Der Premier reagierte sofort und kündigte seinerseits weitreichende Personalentscheidungen an: „Das werden keine kosmetischen Korrekturen sein“, versicherte der angezählte Premier, es ginge schließlich um die Vertiefung der wirtschaftlichen Reformen. Gut informierte Kreise schließen daraus, die Tage des seit Ende 1992 amtierenden Premiers seien nun endgültig gezählt. Noch in den kommenden zwei Wochen wolle der erstaunlich energiegeladene Präsident das Kabinett rundumerneuern. Voraussichtlich kurz nach seinem Auftritt vor der Staatsduma, wo er am 6. März wie gewohnt den Jahresbericht zur Lage der Nation halten wird.

Die Iswestija glaubt zu wissen, daß Tschernomyrdins Entlassungsukas schon seit Wochen beim Präsidenten liege und nur noch auf dessen Unterschrift warte. Jelzin sei es diesmal ernst. Er übertrug dem Kabinett die Aufgabe, binnen zehn Tagen die katastrophale finanzielle Lage im Bildungsbereich zu bereinigen und den Pensionären die überfälligen Renten auszuzahlen. Seit Monaten erhalten Angestellte und Lehrer keine Löhne oder wenn, dann mit monatelanger Verspätung. Die leeren Kassen kann freilich auch kein noch so motivierter Tschernomyrdin aufstocken, schon gar nicht innerhalb von zehn Tagen.

Unterdessen würde eine Entlassung des langjährigen Premiers in der Öffentlichkeit eine kurzfristige Wirkung nicht verfehlen. Der Präsident ist zurück am Arbeitsplatz und haut auf die Pauke. Jelzin trotz aller Schwächen als der Steuermann Rußlands. Genau so lautet die Botschaft. Es ist Jelzins Art, in die Rolle des Patriarchen zu schlüpfen und den Rest der Familie ordentlich zusammenzustauchen. Es wäre insofern auch nicht verwunderlich, wenn der Kremlchef es zunächst beim öffentlichen Rüffel beließe und subalterne Chargen dran glauben müßten.

An Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten mangelt es nicht. Vizepremier Wiktor Iljuchin gehört in den engeren Kreis, er kümmert sich um soziale Fragen in der Regierung. Als möglicher Nachfolger wird auch der Vorsitzende des russischen Oberhauses, Jegor Strojew, gehandelt. Ein gemäßigter Politiker, der die aufmüpfigen Regionen ein wenig zügeln könnte. Kürzlich hatte er sich Jelzin empfohlen, indem er eine Verfassungsänderung ablehnte, die die Kompetenzen des Präsidenten beschneiden wollte. Ebenfalls genannt wird Anatolij Tschubais, Jelzins Stabschef. Er würde dem Land in der Tat neue Impulse verleihen. Indes genießt er im Volk keine Popularität, und auch die Opposition aus Kommunisten und Chauvinisten sieht rot, sobald nur sein Name fällt. Klaus-Helge Donath