Morde als Mittel mexikanischer Politik

Der Clan des mexikanischen Ex-Präsidenten Carlos Salinas de Gortari steht im Mittelpunkt des Politkrimis, der Mexiko seit nunmehr bald drei Jahren in Spannung hält. An Aufklärung glaubt kaum noch jemand.  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Ein Mann im weißen Kittel steigt aus der Grube, an beiden Händen trägt er Gummihandschuhe und hält ein Tablett in die Kameras. Darauf: ein halbverwester Schädel. Im Hintergrund tragen schwarz uniformierte Männer einen Plastiksack davon. Schauplatz des Geschehens ist eine Finca am Rande der mexikanischen Hauptstadt. Sie gehört Raúl Salinas, dem Bruder des Ex-Präsidenten Carlos Salinas.

Die Reporter sind neugierig: Wie man in dem riesigen Anwesen denn auf die Stelle gestoßen sei, wo die Leiche vergraben war? „Das waren Hinweise, die wir im Laufe unserer Ermittlungen erhalten haben“, verkündet stolz der Oberermittler Pablo Chapa Bezanilla. Was er nicht sagt, steht zu diesem Zeitpunkt schon in allen Zeitungen: Es seien vor allem die „Vibrationen“ einer stadtbekannten Wahrsagerin, La Paca, gewesen, die die Grabungen geleitet haben.

In den darauffolgenden Tagen sind die Medien voll mit Skelettskizzen und einer einzigen Frage: „Ist er's oder ist er's nicht?“ Gemeint ist jener Abgeordnete, Manuel Muñoz Rocha, der seit zweieinhalb Jahren verschwunden ist und der als Schlüssel zu einem der spektakulärsten Politattentate der letzten Jahrzehnte gilt – der Ermordung des PRI-Generalsekretärs Francisco Ruiz Massieu im September 1994. Als mutmaßlicher Drahtzieher des Mordkomplotts sitzt seit Februar 1995 niemand geringerer als eben Raúl Salinas im Hochsicherheitstrakt, der Bruder des Ex-Präsidenten.

Der Leichenfund ist jetzt viereinhalb Monate her – und vor kurzem haben die Gerichtsmediziner kundgetan: Er ist es nicht. Statt dessen handele es sich bei dem berühmt gewordenen Skelett um den Schwiegervater besagter Wahrsagerin, der vom eigenen Sohn offenbar bei Nacht und Nebel aus seiner letzten Ruhestätte ausgebuddelt und auf der Finca wieder „eingepflanzt“ worden war. Der einst so stolze Ermittlerchef, Sonderstaatsanwalt Pablo Chapa Bezanilla, ist mittlerweile untergetaucht und wird per „dringlicher Vorladung“ gesucht. Sein ehemaliger Chef, Generalstaatsanwalt Antonio Lozano, wurde schon im Dezember seines Amtes enthoben, auch La Paca sitzt – als Auftraggeberin der Kadaver-Verpflanzung – hinter Gittern.

Der mexikanische Endloskrimi um die Hintergründe zum Attentat, in das sowohl der mächtige Salinas-Clan, der Drogenhandel wie auch Teile des Parteiapparats verstrickt zu sein scheinen, gleicht immer mehr einem skurrillen Splattermovie mit einem Schuß schwarzer Magie. Shootingstar der Serie ist zweifellos Francisca Zetina, alias La Paca. Seit ein paar Jahren schon steht die robuste 55jährige als „spirituelle Beraterin“ in den Diensten des Präsidentenbruders. Nach dessen Verhaftung schickte sie diesem zum Trost Talismänner in den Knast und versprach ein wenig Voodoo gegen die „Lawinen aus der Dunkelheit“. Dann schien die geschäftstüchtige Hellseherin ihre große Chance zu wittern: Gegen eine „gewisse Summe“ bot sie im letzten September der Gattin des Verhafteten an, sie zur geheimen Grabstätte des toten Parlamentariers Manuel Muñoz Rocha zu geleiten, „den Ihr Mann ja hat umbringen lassen“.

Die empörte Ehefrau lehnt ab und empfiehlt ihrer Erpresserin, die Information doch lieber gleich den Behörden zu verkaufen. Gesagt, getan: Anfang Oktober übergibt Francisca den Ermittlern ein „anonymes Schreiben“ samt Lageplan mit der Stelle, wo der Verschwundene verscharrt sein soll. Für diesen „Hinweis“ kassiert sie aus der Behördenkasse mindestens eine Million Pesos, umgerechnet etwa 200.000 Mark – ob der falschen Leiche eine glatte Fehlinvestition, wie sich jetzt herausstellte.

Bei alledem habe es sich um eine „inszenierte Kampagne“ gegen Raúl Salinas gehandelt, schimpfen die Anwälte des Präsidentenbruders. Nach Aussage der Wahrsagerin vielmehr verhält es sich genau andersherum: Raúl Salinas selbst hat sie per Telefon unter wüstesten Drohungen gezwungen, die Lügengeschichte mit der falschen Leiche zu inszenieren. Sein Kalkül sei es gewesen, dadurch erst dramatisch belastet – und mit dem Auffliegen des Bluffs ebenso spektakulär wieder reingewaschen zu werden, die Ermittlungsbehörden hingegen zu blamieren und zu diskreditieren.

Dieses Kalkül, sollte es so gewesen sein, ist aufgegangen: Die mexikanische Öffentlichkeit sieht heute längst nicht mehr den angeklagten Salinas-Bruder als Bösewicht, sondern seine Ankläger. Und tatsächlich hätte etwa Ermittler Pablo Chapa, sollte er jemals und noch dazu lebendig wieder auftauchen, wohl einiges zu erläutern. So soll der forsche Sonderstaatsanwalt dem Hauptbelastungszeugen gegen Raúl Salinas eine halbe Million Dollar für die Aussage bezahlt haben, er sei vom Präsidentenbruder höchstpersönlich mit der Ermordung des PRI-Politikers beauftragt worden.

So wird Raúl Salinas langsam reingewaschen. Zwar muß sich der Bruder des Ex-Präsidenten nicht „nur“ wegen Anstiftung zum Mord, sondern auch wegen illegaler Bereicherung, Dokumentenfälschung und dem Verdacht auf Geldwäscherei und Drogenfilz verantworten. Vom Vorwurf der Steuerhinterziehung wurde er vor kurzem schon mal freigesprochen, und inzwischen scheint nun auch die Mordanklage auf juristisch eher wackeligen Füßen zu stehen.

Nicht wenige vermuten hinter alledem ein geschickt eingefädeltes Ablenkungsmanöver mit parteipolitischem Hintergrund. Auch dafür spricht einiges: Bundesstaatsanwalt Antonio Lozano, der Raúl Salinas damals verhaften ließ und im Dezember seines Amtes enthoben wurde, war das einzige Oppositionsmitglied im Zedillo- Kabinett. Seine Partei, die rechtsliberale PAN, droht Umfragen zufolge bei den kommenden Wahlen dem Parteidinosaurier zur ernsthaften Konkurrenz zu werden.

Der Rausschmiß des Staatsanwaltes, so mutmaßen Parteigenossen, hänge sicher damit zusammen, daß Lozano in seinen Ermittlungen gegen den Salinas-Sumpf „zu weit gegangen“ sei. Den jüngsten Knochenskandal deckte jedenfalls just der Oberste Justizbeauftragte der Hauptstadt, José Antonio González, auf – bis vor kurzem einer der potentiellen PRI-Anwärter auf den Bürgermeisterposten in Mexiko-Stadt. Schließlich argwöhnte der PAN-Vorsitzende Felipe Calderón vor kurzem in einem Zeitungsinterview, daß es wohl darum ginge „ein Klima der Entlastung für Raúl Salinas herzustellen – und damit zugleich für seinen Bruder Carlos.“

Denn auch der ehemalige Hauptdarsteller im Mexiko- Drama hat sich mittlerweile zurückgemeldet. Nachdem Carlos Salinas im März 1995 wegen der „unrechtmäßigen“ Verhaftung seines Bruders in einen knapp zweitägigen Hungerstreik getreten war, reiste er wenig später mit Sack und Pack ab – und ward seitdem in Mexiko nicht mehr gesehen. Nach einer Odyssee durch die USA, Kuba und Kanada landete Salinas schließlich in Irland.

Der ehemalige Staatschef hat ein denkbar ungetrübtes Verhältnis zur eigenen Vergangenheit: Er habe seine Reformen – also die neoliberale „Modernisierung“, die das Land 1994 endgültig ins politische Chaos und den berüchtigten „Tequila-Crash“ stürzten – eben gegen „mächtige Interessen“ durchsetzen und dafür entsprechende Preise zahlen müssen, sagte Salinas kürzlich der Tageszeitung Reforma. Einzige Schwäche: „Ich habe wohl nicht gut genug auf meinen Bruder aufgepaßt.“

Diese Unschuldsmiene aber nimmt ihm heute kaum einer seiner Landsleute ab. Selbst Nachfolger Ernesto Zedillo, vormals treuer Zögling aus der salinistischen Gefolgschaft, beteuert heute bei jeder sich bietenden Gelegenheit, daß er nach der Schärpenübergabe am 1. Dezember 1994 keinerlei Kontakt mit „Herrn Salinas“ gehabt habe. Zwar wird Carlos Salinas bislang wegen keiner der gegenwärtig köchelnden Polit- und Korruptionsskandale juristisch belangt. Nicht wenige MexikanerInnen aber glauben, daß der agile Politiker zumindest beim Attentat auf den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der PRI, Luis Donaldo Colosio, irgendwie sein Händchen im Spiel gehabt habe.

Dieser Mordanschlag auf den Beinahe-Präsidenten Colosio ist heute auf dem besten Wege, zu einem mexikanischen Kennedy- Syndrom zu werden. Der junge Todesschütze ist längst verurteilt. Alle Spuren aber, die zu dessen Hintermännern hätten führen können, sind fast drei Jahre später wieder im Sande verlaufen, alle, die als potentielle Komplizen festgenommen worden waren, mußten mangels Beweisen wieder freigelassen werden. „Mit Sicherheit kann im Moment nur gesagt werden“, beschrieb neulich ein mexikanischer Karrikaturist den Stand der Ermittlungen, „daß Herr Colosio nicht mehr am Leben ist.“

Dabei geraten auch die Ermittler immer wieder ins Zwielicht. Pablo Chapa Bezanilla ist nicht der erste Staatsanwalt, der quasi über Nacht vom Ankläger zum Angeklagten wird. Schon sein Vorgänger, der ehemalige Sonderstaatsanwalt und Bruder des Ermordeten, Mario Ruiz Massieu, ist inzwischen in einer unrühmlichen Nebenrolle zu bestaunen.

Noch Ende 1994, nachdem er in einer spektakulären Pressekonferenz seinen Posten mit dem Hinweis auf „die Kloaken der Macht“ gekündigt und ein Buch mit dem großspurigen Titel „Ich klage an“ veröffentlicht hatte, galt der junge Jurist als neuer Saubermann der mexikanischen Justiz. Ein paar Monate später wurde er von Zollbeamten an der US-amerikanischen Grenze verhaftet. Zunächst noch wegen einfachen Schmuggeldelikten, dann wurden auf US- Konten neun Millionen Dollar ungeklärter Herkunft entdeckt. Die US-Gerichte bemühen sich derzeit um den Nachweis, daß es sich dabei um Bestechungsgelder der Drogenmafias handelt.

Auch in Mexiko fiel plötzlich auf, daß der Anwalt bei seinen feurigen Anklagen gegen den „Apparat“ einen nicht ganz unbedeutenden Akteur stets ausgespart hatte: die Salinas-Familie. Just der millionenschwere Clan des Ex-Präsidenten aber wurde, wie die Wochenzeitschrift Proceso Mitte Februar publik machte, in dem Prozeß gegen Ruiz Massieu noch einmal aufs Schwerste belastet: Eine Reihe von sogenannten verdeckten Zeugen, darunter ehemalige Agenten des FBI und der US-Drogenbehörde DEA, sagten aus, daß nicht nur „Don Raúl“ und drei der Salinas-Geschwister, sondern auch beide Ruiz-Massieu-Brüder und sogar Luis Donaldo Colosio mit dem Drogenhandel kollaboriert haben.

Eine Welle des Entsetzens ging durch die mexikanischen Behörden und die Bevölkerung, Anwälte drohten mit „juristischen Schritten“ gegen diese „infame Kampagne“ aus den USA – handfeste Beweise für die Ent- oder Belastung der Beschuldigten aber stehen bis heute aus. „Das mexikanische Justizsystem“, so räumte vor wenigen Tagen sogar der neue Bundesstaatsanwalt Jorge Madrazo, ein, durchlebe „derzeit die schlimmste Krise im modernen Mexiko“.

Der Schriftsteller Carlos Monsivais konstatiert, der Justizapparat werde allmählich zum „Synonym verschiedener und einander widersprechender Versionen desselben Tatbestandes“. Wenn Verbrecher überführt werden wollen, „dann müssen sie ihre Verbrechen schon am hellichten Tage, am besten in einer Live-Übertragung und im Beisein einer ganzen Legion von Justizbeamten begehen.“ Und selbst dann, so der Schriftsteller Monsivais bissig, „findet sich sicher noch ein Anwalt, der ihre absolute Unschuld beweisen kann.“

Nach einer Umfrage von Reforma glauben derzeit gerade mal noch vier Prozent der Befragten an die „Ehrlichkeit“ von Justizbeamten und -behörden. Und die Kolumnistin Guadalupe Loaeza sorgt sich vor allem um die „armen Auslandskorrespondenten“, die dieses „beschämende Chaos“ für ihre LeserInnen in der Ferne zu entwirren haben. „Wenn wir MexikanerInnen schon nicht mehr verstehen, wie sollen die dann erst was begreifen?“