■ Lang umkämpft, vieldiskutiert. Das Kirchenwort zur Wirtschafts- und Sozialpolitik weist in die richtige Richtung
: Lernprozeß mit glücklichem Ausgang

Dreieinhalb Jahre wurde an dem Kirchenwort gehämmert, frisiert, gefeilt. Heute wird es der Öffentlichkeit vorgestellt. Ist aus dem Papierberg, den die Religions-Elefanten aufgetürmt haben, mehr als eine Kirchenmaus herausgekrochen?

Im August 1993 hatte Bischof Homeyer das Projekt eines Bischofswortes vorgeschlagen. Im Herbst lagen bereits acht Thesen vor. Diese wurden von den katholischen Gruppen und Verbänden verrissen. Gleichzeitig meldete die evangelische Kirche ihr Interesse an, bei dem Projekt mitzumachen. In einem zweiten, nun ökumenischen Anlauf erarbeitete eine aus beiden Kirchen bunt zusammengestellte Redaktionsgruppe eine Diskussionsgrundlage, die im November 1994 veröffentlicht wurde.

Die positive Resonanz in der Öffentlichkeit hat die Kirchen damals überrascht. Anschließend haben sich zahlreiche kirchliche Gemeinden, Initiativen und Verbände kritisch mit diesem Text auseinandergesetzt. Eine Bilanz dieses Konsultationsprozesses zog man im Februar 1996: Erstaunlich viele Veranstaltungen in Kirchengemeinden sowie schriftliche Eingaben auf 25.000 Seiten. Damit waren die Mängel der Diskussionsgrundlage offenkundig geworden. Der Text hatte sich verbraucht.

Im dritten Anlauf sortierte eine neu zusammengestellte Redaktionsgruppe die Änderungsvorschläge und erarbeitete einen Neuentwurf. Seitdem ist an dem Text noch heftig gezerrt und geschnitten worden. So bewirkte eine „Last- minute-Eingabe“ (vielleicht eines Waigel-Spezis), daß der Euro den Zusatz „dauerhaft stabil“ erhielt.

Wer die drei Textanläufe sowie das Kirchenwort miteinander vergleicht, erkennt schnell: Ohne Konsultationsprozeß hätte es dieses Kirchenwort nicht gegeben. Was ist in der aktuellen wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussion so auffällig? Erstens die eindeutige Absage an eine „Marktwirtschaft pur“ sowie eine heftige Kritik an jenen Politikern, die Höherverdienende steuerlich entlasten wollen sowie die öffentlichen Haushalte auf den Rücken der Kranken, Alten und Arbeitslosen sanieren. Zweitens das Bekenntnis zur sozialökologischen Marktwirtschaft, die auf den gleichgewichtigen Pfeilern einer leistungsfähigen Wirtschaft und sozialem Ausgleich ruht. Drittens die Korridore gesellschaftlicher Reformen, die aufgestoßen werden: zum einen ein Verständnis von Arbeit, das nicht um die Erwerbsarbeit als einzigem Schlüssel für persönliches Glück zentriert ist. Zum andern eine radikale Reform der sozialen Sicherungssysteme, die dann nicht mehr an den Normalfall einer Vollerwerbsbiographie von Männern und einer lebenslangen Partnerbindung der zur Familienarbeit abgestellten Frauen anknüpfen müssen. Und schließlich die dringliche Konversion einer Wirtschaft, die bei Verkehr, Chemie und Landwirtschaft in den Stoffwechsel der natürlichen Umwelt eingebunden ist.

Gewiß, die Sprache des Kirchenworts könnte mutiger sein. Trotzdem wird deutlich, daß sich das Selbstverständnis der Kirchen massiv verändert. So wurde in der Redaktion des Kirchenwortes ein Spagat offenkundig: Die Kirchenleitungen wollen die gesellschaftlichen Reformkräfte bündeln. Deshalb müssen die sozialen Analysen und politischen Lösungswege für die staatlichen Entscheidungsträger einigermaßen anschlußfähig sein. Deshalb sind viele Abschnitte über die Arbeitslosigkeit, die soziale Sicherung und eine sozialökologische Marktwirtschaft vorwiegend im politischen Kontext einer Großen Koalition, hin und wieder an der Grenze eines rot-grünen Bündnisses verortet. Indem das Kirchenwort jedoch in den aktuellen Streit innerhalb der Bonner Koalition um eine Marktwirtschaft ohne Adjektiv und die weitere Demontage des Sozialstaats hineinspielt, verstärkt es die Position der Sozialpolitiker der Union – und zementiert im ungünstigen Fall bloß das bestehende System. So heißt es im Kirchenwort: „In der sozialen Sicherung spricht nichts für einen Systemwechsel.“ Diese Aussage, die durch den weiteren Text gar nicht gedeckt ist, muß kirchliche Gruppierungen aufbringen, die mit Wohlfahrtsverbänden und alternativen Initiativen vernetzt sind.

Derartige Reibungen zwischen Leitungen und Basis sind wohl unvermeidlich, wenn die Großkirchen als Interessenverbände in einer pluralen Gesellschaft auftreten und sowohl gesellschaftliche Meinungen bündeln, um sie an die staatlichen Entscheidungsträger heranzutragen, als auch die Ergebnisse staatlicher Entscheidungsprozesse, an denen sie indirekt beteiligt sind, der Bevölkerung zu vermitteln. In letzterem liegt natürlich die riesige Gefahr, daß die Kirchenleitungen zu Staatsapparaten werden, denen die Solidarität innerhalb der Führungseliten wichtiger ist als die Solidarität mit den kirchlichen Sozialverbänden. Der Konsultationsprozeß hat diese Gefahr ziemlich zurückgedrängt.

So hat gerade die gelungene Verzahnung des Konsultationsprozesses mit dem Kirchenwort den beiden Großkirchen eine neue Rolle zugespielt – sich als Bestandteil einer pluralen, weltanschaulichen, neutralen, aber wertgebundenen Gesellschaft zu begreifen. Tatsächlich sind die Kirchen dabei, ihre institutionelle Verfestigung zu lockern und ihren Ursprung als religiös-soziale Bewegungen wiederzuentdecken. Als zivilgesellschaftliche Akteure richten sie ihr Sozialwort in erster Linie an die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Sie machen ein Gesprächsangebot, wie ein neuer Gesellschaftsvertrag formuliert werden könnte, und liefern einen Beitrag zur gesellschaftlichen Verständigung. Allerdings werden sie nicht daran vorbeikommen, sich nach den Fensterreden aus dem eigenen Haus in das gesellschaftliche Gebrodel hineinzuwerfen und politische Bündnisse zu suchen. Ängste, daß sie sich dabei die Finger dreckig machen oder die feinen Kleider verbrennen, müssen sie nicht kultivieren.

Das Wort der Kirchen sei kein letztes Wort, heißt es im Text. Tatsächlich muß dem Wort ein zweiter Prozeß der ökonomischen und sozialen Alphabetisierung folgen – die Funktion des Geldes in einer kapitalistischen, allenfalls sozialökologisch gezähmten Marktwirtschaft ist öffentlich zu diskutieren. Ebenso die Rolle des mit der Geldschöpfungsmacht ausgestatteten Bankensystems. Die Kirchen müssen auch erklären, mit wem sie die sozialökologische Marktwirtschaft verwirklichen wollen. Und wie sie in ihren eigenen Institutionen Arbeitszeitverkürzung und flexibler Gestaltung und, vor allem, der Gleichstellung der Frauen Geltung verschaffen wollen. All das steht noch aus.

Friedhelm Hengsbach