Heute wird das gemeinsame "Sozialwort" der katholischen und evangelischen Kirchen unter dem Titel "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" veröffentlicht. Es beklagt die "tiefen Risse" im Land und formuliert eine Absage an die po

Heute wird das gemeinsame „Sozialwort“ der katholischen und evangelischen Kirchen unter dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ veröffentlicht. Es beklagt die „tiefen Risse“

im Land und formuliert eine Absage an die politisch immer einflußreichere neoliberale Ideologie

St.-Martins-Prinzip für die Politik

Über 90 Seiten umfaßt die Schrift. Sie wurde mehr als drei Jahre vorbereitet, diskutiert, verworfen, umformuliert und schließlich am vergangenen Wochenende von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands in ihrer Endfassung gebilligt. Heute wird das Papier in Bonn unter dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ offiziell vorgestellt. Sie ist die zentrale Stellungnahme der beiden Hauptkirchen „zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“. Und sie könnte, so fürchtet die CDU- Zentrale in Bonn und so hoffen christliche Basisgruppen in der Bundesrepublik, einen Regierungswechsel nach fast anderthalb Jahrzehnte langer christliberaler Koalition beschleunigen.

Denn die zentrale These des Kirchenworts lautet: „Die Kirchen treten dafür ein, daß Solidarität und Gerechtigkeit als entscheidende Maßstäbe einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Wirtschafts- und Sozialpolitik allgemeine Geltung erhalten.“

Dieser Satz muß aus dem wattierten Kirchendeutsch für Laien übersetzt werden. Er bedeutet eine krasse Absage an neoliberale Zukunftsprojekte nach Art der CDU- Youngster wie Christian Wulff, vor allem aber einen Affront gegen ein klientelbezogenes und raffgieriges Politikverständnis nach Art des FDP-Generalsekretärs Westerwelle. „Tiefe Risse gehen durch unser Land: vor allem der von Massenarbeitslosigkeit hervorgerufene Riß, aber auch der wachsende Riß zwischen Wohlstand und Armut oder der noch längst nicht geschlossene Riß zwischen Ost und West (...) Manche würden der regulativen Idee der Gerechtigkeit gern den Abschied geben“, heißt es weiter. Und: „Dem Egoismus auf der individuellen Ebene entspricht die Neigung der gesellschaftlichen Gruppen, ihr partikulares Interesse dem Gemeinwohl rigoros vorzuordnen.“ Eine direkte Schlußfolgerung, wie etwa die nach einem Bonner Machtwechsel, zieht die Denkschrift aus ihrer Analyse nicht – aber nach Meinung nach Friedhelm Hengsbach, Professor an der kirchlichen Frankfurter Hochschule St. Georgen, bewegen sich weite Teile des Papiers „vorwiegend im politischen Kontext einer großen Koalition, hin und wieder an der Grenze eines rot-grünen Bündnisses“ (siehe Debattenbeitrag Seite 10).

Dem „Sozialwort“ ging eine langwierige Diskussion voraus. Ein Ende 1993 verfaßtes Thesenpapier der katholischen Bischöfe richtete sich in erster Linie an die politische Klasse, an Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Die kirchliche Basis fühlte sich übergangen und deckte ihre Bischöfe mit empörten Briefen ein. Schließlich bat noch die evangelische Kirche, gemeinsam ein ökumenisch orientiertes Papier zu verfassen.

Die dann zum Jahreswechsel 1994 formulierte erste Variante erntete gleichfalls Protest, vor allem bei der Partei, die den christlichen Anspruch gleich im Namen trägt: Der CDU nämlich war es zuwenig wirtschaftsstandortfreundlich und diskutierte allzustark die Sorgen und Nöte derjenigen, die eben unter der herrschenden Wirtschaftspolitik zu leiden hatten.

Der christlichen Basis hingegen fehlte in der Vorlage alles, was es vom Stigma politischer Lächerlichkeit hätte befreien können – präzise Worte, so die Kritik vor allem aus dem Osten der Republik, über den Kapitalismus und seine Folgen oder über den Umstand, daß in der Bundesrepublik mitnichten alle Menschen ärmer werden, sondern daß der wachsenden Armut und wachsender Wohlstand bei wenigen gegenübersteht.

So wurde die Diskussionsgrundlage wieder in die Gemeinden und Synoden (Kirchenparlamente) zurückgegeben. Bis Mitte vorigen Jahres gab es 2.500 Stellungnahmen: meist Berichte aus jenen Teilen der Gesellschaft, in der Begriffe wie Armut oder Angst vor der Zukunft keine Drohungen mehr, sondern längst Tatsachen sind. Genau diese Rapporte finden sich in der Endfassung bestenfalls verdünnt wieder: Die Kirche, so gibt ein EKD-Ratsherr in Hannover unumwunden zu, darf es sich bei schwindenden Kirchensteuereinnahmen auch nicht mit den Herrschenden in Bonn gänzlich verderben.

Trotzdem wird das „Sozialwort“ nicht umstandslos in die Schubladen der Parteipolitiker versenkt werden können: Was über die Forderung nach einem Konsens auf ein Gemeinwohl und auf eine solidarische Ethik hinausgeht, sind Vorschläge, die nicht nur mit der Ideologie des einseitigen Verzichts der Deklassierten nichts zu tun haben wollen, sondern auch Tabus berühren.

Erwerbsarbeit beispielsweise müsse auf beide Geschlechter aufgeteilt werden; wenn nicht mehr genügend Lohnarbeit für alle vorhanden sei, müsse man über Teilzeitmodelle nachdenken; Erwerbstätigkeit kann nicht Männer bevorteilen und Frauen zugleich ihre einst tradierten Bereiche wie Haushalt und Kinderaufzucht zuweisen: Thesen, die im linken Spektrum gründlichst ausdiskutiert sind, aber an der bis weit ins CSU-Milieu verankerten christlichen Basis genug Debattenstoff für eine offene, sozial orientierte Gesellschaft bieten.

Dem basiskatholischen Blatt Publik-Forum geht Wortwahl und Inhalt des „Sozialworts“ trotzdem nicht weit genug. So wurde die „Bundesbank“ in „für die Finanzpolitik Verantwortlichen“ umgedichtet, die „Armen“ in „Schwächere“ umgetauft und aus „männlicher Industriearbeit“ wurde bescheidener „industrielle Arbeit“. Karl Nothof, Vorsitzender der 250.000 Mitglieder starken Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, zeigt sich jedoch „über alle Maßen zufrieden“. Das „Sozialwort“ trage jetzt deutlich den Stempel einer Haltung, die sich „nicht nur den Politikern andient“. Jan Feddersen