Der Dachverband im Stahlrahmen

Eine Aufstockung: Beim Deutschen Architektur Zentrum ist jetzt alles unter einem Dach – in der ehemaligen Werkzeugfabrik Stock. Teil VIII der Serie „Wie gewohnt?“  ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann

Jeder Berufsstand hat seine Sehnsucht. Architekten träumen, natürlich, von einem Haus, in dem gelebt und gearbeitet, geforscht und gefeiert wird, dessen Gestalt für sich selbst spricht und nach außen strahlt: alles unter einem Dach – und alles Architektur.

An der Spreeinsel gab es einst so ein Haus: die Bauakademie. Hier lebte und arbeitete ihr Erbauer, Karl Friedrich Schinkel, gab angehenden Baumeistern seine Ideen mit auf den Weg, bestimmte das Baugeschehen im ganzen Land. Ihre bauliche Hülle war eine Werbung für den Berufsstand. Die direkte Nachbarschaft zum königlichen Bauherren zeugte von der Bedeutung der Architektur im preußischen Staat.

Kaum zwei Kilometer flußaufwärts verfolgt heute das Deutsche Architektur Zentrum (DAZ) ein nur wenig anderes Konzept: 58 Architekten, Designer, Landschafts- und Stadtplaner schlossen sich 1994 mit ihren Berufsverbänden zusammen, um alle am Bau Beteiligten unter einem Dach zusammenzubringen, um Architektur zu erforschen, zu erarbeiten und zu erleben und die Öffentlichkeit mit Ausstellungen und Diskussionen an diesem Erlebnis teilhaben zu lassen.

Ihr Domizil liegt in der Köpenicker Straße 48/49 in der ehemaligen Werkzeugfabrik Stock. Den Umbau des 1900 errichteten Gewerbehofs leitete der junge Berliner Architekt Claus Anderhalten. Er erhielt den Altbau mit allen Narben und ergänzte ihn mit Büroeinheiten in durchaus nobler, zeitgenössischer Industrieästhetik. Eine Wunde, die der infolge des Krieges weggesprengte Seitenflügel gerissen hatte, bedeckte er mit filigranem Stahl-Glas-Vorhang.

Die überaus einladende Geste dieses Entrées sieht jedoch nur, wer das Gebäude kennt, fest entschlossen ist, es in dem vernarbten Areal aus Ruinen und Gebrauchtwagenhändlern zu finden, und auch dann nicht umkehrt, wenn der Weg zur Baukunst mit Sanitärobjekten gepflastert ist. Die Position des DAZ ist nicht leicht erkennbar: Stadträumlich liegt es im Abseits, inhaltlich bietet es Architektur vor allem der gewerbsmäßigen Perspektive.

Was fehlte, war ein Dach. Ein Dach, das die Konzeption des Hauses versinnbildlichte, die recht heterogene Erscheinung des DAZ zusammenfaßte und seine Wirkung selbstbewußt nach außen trug. Zugleich sollten Wohnungen für die darunter arbeitenden Architekten die Idee „Alles unter einem Dach“ funktional vervollständigen. 1994 führte die Eigentümergemeinschaft unter ihren Mitgliedern einen entsprechenden Wettbewerb durch. Ihn gewann das Büro Assmann Salomon und Scheidt. Heute steht das Projekt kurz vor der Fertigstellung.

Konstruktiv betrachtet ist der neue Dachaufbau eigentlich nichts weiter als ein weiteres Geschoß. Das neue Tragwerk folgt exakt dem Rhythmus des bestehenden Stahlskelettrasters. Doch die neuen Stützen und Rahmen sind nackt: Dank statistischer und brandschutzrechtlicher Tricks schält sich unverkleideter Stahl aus dem Altbau. Das Gebäude häutet sich. Das Tragwerk befreit sich von überflüssigem Ballast, streift Putz und Ausfachung ab. Erst durch das Neue wird die Logik des Alten sichtbar.

Das neue Dach besteht vor allem aus einem nach außen gewendeten U-Profil. Es ist ein schlichter Stahlrahmen, der Neuen Nationalgalerie nicht unähnlich und mit Bedacht genauso überdimensioniert. Die feinen Stützenpaare können die Platte kaum tragen, sie scheinen sie allenfalls gegen Abheben zu sichern. Die Außenwände sind vollverglast, soweit wie möglich hinter die Dachkante zurückgenommen und fallen optisch kaum ins Gewicht. Die mächtige Platte scheint zu schweben. Eine unübersehbare Geste, egal, ob man unmittelbar vor dem Gebäude steht oder es vom anderen Spreeufer mit der S-Bahn passiert. Ein vergessenes Stück Stadt taucht auf.

Dieser Effekt funktioniert auch umgekehrt. Von oben wird das Panorama durch das Dach enorm aufgeladen. Man nimmt die Außenwelt anders wahr. Zwischen der schweren, fast rabiaten Stahlplatte und dem weichen, fast zärtlichen Kiefernholzboden entsteht eine magische Spannung. Hinter dessen Rahmen verwandelt sich das von unten heillos häßliche Durcheinander von Kraftwerk, Stadtbahn, Plattenbauten, überwucherten Bunkern usw., in dem die Gegenwart der Spree von unten bloße Behauptung war, in eine faszinierende Flußlandschaft.

Der grandiose Ausblick, den das neue Dach eröffnet, ist nicht ganz privat. Die geschoßhoch verglasten Außenwände springen so weit hinter die Traufe zurück, daß ein breiter Gang entsteht, der alle 18 Wohneinheiten umläuft. Bisher frei von Trennelementen, ist er mehr als ein Erschließungsweg. Es ist eine zusammenhängende Terrasse, deren Großzügigkeit mit der Weite des Panoramas durchaus mithalten kann.

So offen die Bewohner die Dachterrasse ließen, so energisch bestanden sie darauf, ihren Wohnraum individuell zu gestalten. Das durchgängige Wohnkonzept, das Assmann Salomon und Scheidt erarbeitet hatten, sah vor, diese Freiheit so weit wie möglich zu erhalten. Auf feste Einbauten und abgetrennte „Zimmer“ sollte verzichtet werden. Statt dessen schlugen sie zum Teil sogar gläserne Schiebeelemente vor, die einzelne Raumbereiche allenfalls markieren. Die Weite des Ausblicks, die die vollverglaste Fassade mit den vier Wänden verschmilzt, sollte von jedem Ort der Wohnung wahrnehmbar sein, der Raumzusammenhang der 60 bis 120 Quadratmeter großen Wohneinheiten nicht verstellt werden.

Wenn aber – was man nicht nur bei Architekten voraussetzen kann – die Nutzer eigene Vorstellungen mitbringen, wie sie wohnen wollen, muß jedes Wohnkonzept unbefriedigend bleiben. So waren Assmann Salomon und Scheidt gut beraten, die vier Wände so einzurichten, daß jeder Bewohner seine eigenen Ideen umsetzen kann, anstatt ihre persönlichen Neigungen nur so zu optimieren, daß alle Mieter damit leben können. Hier war es der statisch ohnehin notwendige Doppelboden, der es ermöglichte, nicht nur Schränke und Küchenmöbel, sondern auch alle Wände und Installationen frei zu setzen.

So organisierten die meisten Bewohner-Architekten ihren Grundriß selbst. Innerhalb des Gevierts aus Wohnungstrennwand und Glasfassade sieht man freistehende, spacig-runde Küchenblocks, labyrinthisch angelegte, dreieckige Raumzellen oder diagonal durch den Raum schießende Wandscheiben, die den Gast vom Eingang direkt auf die Terrasse saugen. Mag die Lust an der individuellen Gestalt noch so groß sein, das Dach sorgt dafür, daß alles im (Stahl-)Rahmen bleibt. Und eben diese Botschaft trägt es auch nach außen: Unter einem Dach ist alles möglich.

Denk-Räume:

– „Berlin Kult“. Bis 20.4. im Berlin-Pavillon am S-Bahnhof Tiergarten, Di–So 11–19 Uhr

– „Das Detlev-Rohwedder- Haus, Geschichte und Umbau des Reichsluftfahrtministeriums“. Leipziger/Ecke Wilhelmstraße, Mo–Fr 8–18 Uhr

– „Das Bild als Labyrinth – Günther Hornig“. Bis 22.3. in der Galerie Zielke, Gipsstraße 7, Mi–Fr 14–19 Uhr, Sa 11–14 Uhr

– „Diskussion um das Planwerk Innenstadt: Stadtlandschaften der Moderne“. Im Staatsratsgebäude, 3.3., 19 Uhr