Collage statt Einheit

Die gute alte Einbauküche hat ausgedient. Aus der Kochecke wird ein zentraler Lebensraum, in dem gilt: Erlaubt ist, was gefällt  ■ Von Marilina Kolvenbach

„Von 10 Fêten enden 8 in der Küche – wir sind darauf vorbereitet“, textet die Firma Leicht in ihrer Werbung. Klar! Was Designer seit jüngstem zum neuen Mythos des Alltags erklären – die Küche als „zentraler Lebensraum“ –, wußte mensch schon immer: In der Küche wird nicht nur gekocht, hier wird gearbeitet, gelebt und manchmal auch geliebt.

An dem mit Olivenöl behandelten Buchenholztisch, die Salzstange kokett im Mundwinkel, läßt sich doch leicht die Gretchenfrage des Abends stellen: Gehen wir auf deinem PVC-Belag oder lieber auf meinem Granitboden Galaxy nach der Party lecker fremd? Und während man sich dann ganz trendy lieber auf den Terracotta-Steinfliesen die Wirbelsäule abwechselnd rhythmisch durchknacken läßt, entdecken unsere lustvoll nach oben gerollten Augen aus der Froschperspektive die Hits der Saison: Die neue Küche gibt sich fraktal, mobil, offen. Der freistehende Kühlschrank wird an die rollbaren Unterschränke gestückelt, die Spüle geht jetzt unten ohne, darüber swingende Relingstangen, und wozu Schränke, wenn es Regale gibt? Innenleben will heutzutage exhibitioniert sein. Statt Einheit lautet jetzt Collage das oberste Gebot der Stunde.

Rutschte unser Auge noch kürzlich auf ultramarinblauen oder silbergrauen spiegelglatten Lackflächen aus – im Schema Oberschrank, Hochschrank, Unterschrank von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke –, bleibt es jetzt regelrecht am Einzelstück hängen. Das gilt auch für das Frontdekor: Pastellfarbene Einbuchtungen mit Edelstahlgriffen wechseln sich mit vierreihigen Lochungen ab, das Ganze nennt sich Muldenstruktur. „Mit den wechselnden Lichtverhältnissen variiert diese Oberflächenstruktur ihre Schatten bis zur vollständigen Auflösung.“ Es lebe das Luxusproblem Küchendesign!

In Wahrheit ist an der Küche bisher wenig herumdesignt und philosophiert worden. Nur einmal ließ die Küche die Architektur auf die Barrikaden steigen und die Revolution ausrufen. Stilwandel als Kampfprinzip. Und dieses eine Mal sollten die Frauen davon profitieren. So sahen es jedenfalls die Architekten der bauhausbewegten zwanziger Jahre.

Um der Wohnungsnot und der Überlastung der berufstätigen, sozial benachteiligten Frauen nach dem Ersten Weltkrieg zu begegnen, entwickelte die österreichische Architektin Grete Schütte-Lihotzky die „Frankfurter Küche“: Orientiert an dem Pragmatismus der Küchen im Mitropa-Speisewagen, werden durchgehende Arbeitsplatten an den Wänden angebracht. Einen Kühlschrank gab es noch nicht, dafür die Kochkiste neben dem Herd, in der auch gleich noch drei Schubladen untergebracht sind. Das Bügelbrett klemmt an der Wand, die Zutatenkommode enthält 18 fertig beschriftete Reis-, Kaffee-, Graupen- usw. -dosierschaufeln, aus dem Spültisch kann das Wasser ordentlich ablaufen, und unter der Arbeitsplatte gibt es eine herausziehbare Abfallschublade: die „Urzelle“ Einbauküche wäre geboren.

Die Kücheneinrichtung folgte den Taylorschen Zeit- und Bewegungsabläufen. Unter dem Einfluß der amerikanischen Hauswirtschaftlerin Christine Fredericks wurde die Küche zum Inbegriff von Effizienz, Sauberkeit und Ordentlichkeit. Geschwindigkeit bei der Essenszubereitung wurde zur neuen Losung. Je mechanisierter, robotisierter und kontrollierter, desto besser. Die Farbe weiß, das Material abwaschbar, ihre Eigenschaft makellos, so hat die moderne Küche auszusehen. Ebenso antiseptisch und praktisch wie die Küchen, die auf der Ausstellung „Chicago's Century of Progress“ 1933 als „wissenschaftliches Labor, abwaschbar mit einem Wasserschlauch“ bezeichnet wurden. Die gesamte Vorstellungswelt jener Epoche wird von der wissenschaftlichen Transformation des Bereiches geprägt, der jahrhundertelang als „Heim und Herd“ sein Schattendasein führte.

Auch die künstlerischen „Avantgarde-Bewegungen“ nehmen – damit sind sie ihrer Zeit etwas voraus – die Diskussion auf. So wünscht sich F.T. Marinetti im „Manifest der futuristischen Küche“ 1930: „Eine Ausstattung der Küche mit wissenschaftlichen Geräten: Ozonisatoren, Ultraviolett- Lampen, Elektrolyseure ...“

Fast vierzig Jahre später hätte Stardesigner Colani mit seiner Weltraumküche diese Vision des Futurismus erfüllt: Auf maximal zwei Quadratmetern baut sich in klaustrophobischer Extremnähe die High-Tech-Plastekommandozentrale um die Hausfrau auf. Ready for take off – sicherlich, aber mindestens so einsam wie ein Kosmonaut. Erst in den achtziger Jahren gerät die Wohnidee Küche als „Working-Center“ mächtig ins Wanken. Doch die gute alte Einbauküche aus den fünfziger Jahren bleibt. Mit elektromotorausfahrbaren Vorratsschränken und Bulthaup-Butcherblock in Raummitte und verchromten Fronten avancierte sie zum Vorzeigestück. In der Küche der Neunziger wird nicht mehr gekocht, geschuftet und geschwätzt, sondern kreativ gestaltet. Und für den schöpferischen Geist muß eben die passende Umgebung her.

Das bedeutet für das Fertiggericht „Einbauküche“ Entsorgung, zum Beispiel im Abfallcontainer des „System 25“, und aufgetischt wird die Küche à la carte: frei kombinierbare Module, jedes Material darf mit jedem, jede Farbe mit jeder. Die Küche wird nicht mehr eingebaut, sondern eingerichtet. So wird auch die letzte Bastion sozialen Bauens vom egomanischen Verrat erstürmt. Anything goes. Das war eigentlich immer das Prinzip jeder WG gewesen, die ihre Küche mit allerlei Sperrmüll bestückte. Heute ist dieses Prinzip Credo des elitären Küchendesigns. Und wie immer muß die italienische Designphilosophie dem allen den Heiligenschein aufsetzen. Die neue Ära der „humanen Küche“ verkündet uns Stefano Marzano, „um den Wert des Seins über die Tugend des Tuns zu stellen“. Und bei so viel samariterisch designtem Küchenmobiliar bleibt nur zu hoffen, daß der darin abgehaltene Küchensex bald heiliggesprochen wird!