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...und plötzlich war die Kirche voll

Ein Stuttgarter Pfarrer öffnet seine Kirche. Und die Armen kommen: Betrunken, bedürftig und weil mal was los ist  ■ Von Andrea Böhm

Das Schiff schwankt, als Josef den ersten Fuß auf die Planke setzt. Die Kanzel neigt sich bedrohlich nach rechts, die Bänke rutschen plötzlich nach links, die Kerzenlichter wabbern wie Nebelscheinwerfer aus weiter Ferne. Die Nackenmuskeln können den Kopf nicht mehr geradehalten, was den aufrechten Gang sichtlich erschwert.

Die Sinne registrieren mehr als der Kopf gerade verarbeiten kann: Links Küchengeklapper, rechts Schnarchen, hinter ihm jaulen zwei Hunde, die sich ineinander verkeilt haben. Die Luft riecht nach Rührei mit Schinken, im Mund hat er noch den Geschmack von „Jim Beam- Cola“ aus der Dose. Vielen Dosen, um genau zu sein. Wie aus dem Nebel taucht ein bärtiger Mann mit dicker Brille und Handy vor ihm auf, packt ihn am Arm. „Na, Josef, hast' wieder Bullen aufgeklatscht?“

Josef steht der Sinn nicht nach Gesprächen. Allein der Blick und ein seufzender Schnaufer durch die Nase signalisieren, daß er endlich da ist, wo er hin wollte: Vor dem Altar der Stuttgarter Leonhard-Kirche, an dem der Bärtige ihn jetzt gleich vorbei- und in die kleine Kapelle lotsen wird, die man in einen Erste-Hilfe-Raum verwandelt hat. Ein paar neue Verbände müssen auf die schwärenden Wunden an den Unterarmen, die wahrscheinlich so alt sind wie dieser Winter. Wie zum Dank ballt er die Faust, hebt den Arm zum Schlag, torkelt in die nächste Kirchenbank und sackt neben dem Jungen mit dem verfilzten Mohawkschnitt zusammen, dessen Jacke die Aufschrift ziert: „Hitler ist tot, Kohl ist krank – es lebe der Punk“.

Die rund vierzig KirchgängerInnen, die an normalen Sonntagen zum Gottesdienst kommen, würden mindestens ein oder zwei Bibellängen Abstand halten – aus Respekt vor dem zugeschwollenen Auge des Punkers und vor Josefs Faust, die wie bei einem Roboter immer wieder gegen imaginäre Polizisten ausfährt. Bloß herrschen derzeit keine normalen Tage in der evangelischen Sankt-Leonhard- Kirche, weswegen diejenigen in der Überzahl sind, die man gemeinhin für nicht normal hält. Junkies und Alkis, Obdach- und Arbeitslose, die bei der illegalen „Jobbörse“ leer ausgegangen sind; Flüchtlinge aus Bosnien, Bauarbeiter aus Polen und der Ukraine; psychisch Kranke, die zu labil sind, um auf die Füße zu kommen, und nicht gefährlich genug, um eingewiesen zu werden; Rentner; Prostituierte aus dem angrenzenden Stuttgarter Rotlichtviertel, das sehr überschaubar wirkt und nach unbestätigten Messungen 84 Meter lang sein soll. Was wiederum manchen StuttgarterInnen peinlich ist, die ihre Stadt lieber näher am Großstadtflair als an den Weinbergen sähen.

Der Große mit dem Bart, Pfarrer Martin Friz, hatte vor zwei Jahren die Idee, all diesen Leuten für ein paar Wochen im Jahr einen Ort zu geben, „wo man geborgen ist, wo man Armut ohne Scham zeigen und so sein kann, wie man ist“. Im Sozialarbeiterjargon nennt man das ein „niedrigschwelliges Angebot“. Man muß, um Hilfe zu bekommen, keinen Entzug, keine Therapie machen, keine unerwünschten Beratungsgespräche führen. Man muß noch nicht mal nüchtern sein. Das erfordert erhöhte Wachsamkeit bei Friz und seinen HelferInnen.

Unter den Junkies sind ihm die Heroinabhängigen am liebsten: „Die sind ruhig.“ Im Gegensatz zu jenen, die nach dem Konsum von „Cocktails“ aus Drogen, Tabletten und Alkohol zu kleinen Zeitbomben werden können. Eine Attacke mit einem Stilett konnte er neulich gerade noch abwehren. Und dann war da letzte Woche dieses schmatzende Geräusch, als eine junge Frau kollabierte und mit dem Gesicht in den Mittagsteller fiel. Am Schopf mußte er sie hochziehen, „sonst wär' die in der Suppe erstickt“.

Den Spätwinter hat Friz für seine Aktion gewählt, weil seine Zielgruppen von der kalten Jahreszeit am härtesten mitgenommen sind, Nahrung und medizinische Hilfe am meisten brauchen. Seit 1995 rücken nun jeden Januar ehrenamtliche Helfer in der Leonhard-Kirche an, montieren die Hälfte der Kirchbänke ab, verlegen einen Bretterboden, stellen Tische, Stühle und eine Küche auf und verwandeln die Magdalenenkapelle in eine Ambulanz und St. Leonhard in eine „Vesperkirche“. Neun Wochen lang gibt es täglich Kaffee, Tee, Mittagessen für zwei Mark, nachmittags Eßpakete – alles finanziert aus Spendengeldern. Ein Friseur schneidet Haare. Wer es will und braucht, kriegt einen Termin beim Rechtsanwalt, bei der Arbeits- oder Drogenberatung. Ein paar Ärzte halten Sprechstunde in der Kapelle, ein Tierarzt kümmert sich um Hund, Ratte, Igel oder was immer sonst noch aus dem Tierreich angeschleppt wird. Schlangen müssen draußen bleiben – nicht aufgrund traumatischer biblischer Erfahrungen, sondern weil der Pfarrer unter einer Phobie leidet. Inzwischen finden sich bis zu 500 Leuten täglich ein – darunter zunehmend alleinstehende Mütter und Langzeitarbeitslose, „Opfer des strukturellen Zusammenbruchs im mittleren Neckarraum“, sagt Friz. Die Scham allerdings bleibt. Kaum einer will mit vollem Namen in der Zeitung stehen. Die einen haben Angst, von den Nachbarn „geoutet“ zu werden, die anderen wollen nicht zum Sozialamt zitiert werden, wo man sie nach Honoraren für Interviews ausfragt.

Er wollte alle Gruppen einmal zusammenhaben, sagt Martin Friz, „denn aufgesplittet sind Arme eben leichter beherrschbar“. Was allerdings nicht heißt, daß es bei Bratkartoffeln und Rührei zu größeren Aktionen der Solidarisierung käme. Das Wunder der „Vesperkirche“ besteht eher darin, daß es bei dieser Ansammlung von konfliktträchtigen Biographien überhaupt so friedlich zugeht. Die Rentner meckern über die Punker, die Behinderten schimpfen auf die Säufer, die den Kirchenvorplatz bereits am frühen Nachmittag wieder mit einer ansehnlichen Batterie aus Weinflaschen und Bierbüchsen zugestellt haben und der Außenmauer an manchen Stellen einen penetranten Uringeruch verpassen. „Schau sie dir an“, raunt Mirko, gelernter Koch und mit 38 Jahren selbsterklärter Aussteiger aus der Welt der „Hektik und der Gier“. „Höchstens ein Fünftel von denen ist wirklich hilfsbedürftig.“

Er selbst schwört Stein und Bein, daß er keinen Pfennig von Vater Staat nimmt und sich ganz auf sich und sein Netzwerk von Sommerjobs in der Bretagne bis zu Suppenküchen in Kopenhagen verläßt. „Die Jungschen könnten doch alle arbeiten, wenn sie wollten“, sagt Hedwig, die 77jährige Rentnerin aus dem Sudetenland, Stammgast in der „Vesperkirche“. Sie wohnt allein, vier Stockwerke hoch, ohne Aufzug und Bad und verbringt täglich drei bis vier Stunden im Stadtbad, wo sie „den Jungschen“ noch was vorschwimmt. Aber die hören einem ja nie zu wie früher ihre Freundinnen und Bekannten. „Kein Anschluß unter dieser Nummer“ heißt es immer öfter, wenn sie eine anrufen will. Jetzt hat sie für ein paar Wochen wenigstens die Tischgenossen in der „Vesperkirche“, denen sie von ihren jungen Jahren im Sudetenland und in Berlin, von vergangenen Tanzabenden im Stuttgarter „Königshof“ und vom aktuellen Zorn auf die Bundesregierung erzählen kann, die sich gerade „mit dieser Verbrecherbande von Tschechen“ ausgesöhnt hat. „Dem Kinkel könnt' ich in die Fresse hauen.“ Im Überschwang pfeffert sie ihrem Gegenüber ein Stück Ei an die Backe.

Am Nachbartisch taucht Norbert, dessen Gesicht von erfolglosen Rasierversuchen malträtiert ist, plötzlich aus seiner Traumwelt auf und bringt die Sache unfreiwillig auf den Punkt. „Der Chinese is' g'storben“, sagt er mit versonnener Stimme, als wäre Deng Xiao Ping gerade vor seinem geistigen Auge vorbeigeschwebt. „Im Tod sind halt alle gleich.“

So oder ähnlich denken ganz hinten in der rechten Ecke die Immigranten, die vor zwanzig oder dreißig Jahren als Jugoslawen nach Deutschland gekommen waren – und heute Kroaten, Slowenen oder Serben sind. Dabei eint die fünf, die sich heute in der „Vesperkirche“ ihr Mittagessen abholen, mehr, als sie trennt: kaputte Knochen, eine dezente Alkoholfahne, eine miese Rente und die Adresse im Männerwohnheim. Jetzt spielen sie „Mensch-ärgere-dich- nicht“.

Wirft man einen Blick auf die Spenderliste für die „Vesperkirche“, so scheinen die Stuttgarter die Aktion ins Herz geschlossen zu haben. Im letzten Jahr kamen Schecks von Schulen und Kirchengemeinden, von einer Esslinger Maschinenbaufirma und dem Öttlinger Elternkreis, von den Rotariern und dem Deutsch-Amerikanischen Frauenclub. Die Zahl der freiwilligen HelferInnen ist auf über 200 angewachsen. Es gibt eine Warteliste.

Doch man wäre nicht in Deutschland, gäbe es nicht auch hier eine Grundsatzdebatte über die Armenpolitik. „Amerikanische Verhältnisse“ zu schaffen, haben einige Sozialarbeiter Martin Friz vorgeworfen. Solche Aktionen der Barmherzigkeit, kritisiert Willi Schraffenberger von der Stuttgarter „Ambulanten Hilfe“ für Obdachlose, erlaubten dem Staat, die Ansprüche der Armen auf soziale Leistungen immer weiter herunterzuschrauben.

Friz, der mit Schraffenberger schon in Radioshows aneinandergeraten ist, geht „diese reine Lehre der Armenpolitik auf den Geist“. Daß es in Deutschland zunehmend mehr Armut geben wird, ist für ihn so sicher wie das Amen in der Kirche. „Natürlich gibt es politische Handlungsfelder. Aber wenn da nicht viel verschoben wird, muß man auch nach anderen Wegen suchen, um Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen und ihnen würdevolle Räume zu verschaffen.“

Gestern forderten die Katholische Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in einer gemeinsamen Erklärung, nicht nur Armut, sondern auch den Reichtum zum Thema der politischen Debatte zu machen. „Tiefe Risse“ gebe es zwischen Wohlstand und Armut, Mangel werde umverteilt, nicht aber Überfluß. Wie in allen Städten ist dieser Riß in Stuttgart auch geographisch zu verorten: Die Leonhard-Kirche, die schon früher jenseits der Stadtmauer und also der reicheren Viertel stand, ist heute mitsamt Rotlichtviertel durch eine vierspurige Schnellstraße von der Fußgängerzone mit den Kaufhäusern, dem Rathaus, den Ministerien und dem Schloßplatz getrennt – dort, wo sich die Mittagsgäste von Pfarrer Friz an „normalen“ Tagen in kleineren Grüppchen treffen.

Gegen vier Uhr nachmittags, wenn die „Vesperkirche“ mit einer eher sporadisch besuchten Andacht schließt, ziehen sie langsam durch die Unterführungen auf die andere Seite zurück. Josef zum Beispiel, gestützt auf seinen Kumpel Andi, der verspricht, „keinen Alkohol mehr zu trinken bis zum nächsten Bier“.

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