Sozialistischer Größenwahn vor Gericht

Der Internationale Gerichtshof beginnt heute das Verfahren um die riesigen Donau-Kraftwerke, die einstmals gemeinsam von Ungarn und der Tschechoslowakei geplant wurden  ■ Von Dietmar Bartz

Presov (taz) – Tiefe Stille herrscht in Bratislava, in Budapest dagegen Aufregung wie in alten Tagen. Denn heute beginnt vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag der Rechtsstreit zwischen der Slowakei und Ungarn um „Gabcikovo/Nagymaros“. Drei Fragen sollen die Richter bis zum Herbst klären: Durfte erstens Ungarn 1989 einseitig aus dem Bau des Kraftwerksystems vom slowakischen Gabcikovo bis zum ungarischen Nagymaros aussteigen, der zweihundert Kilometer Donaulandschaft in ein gewaltiges Stromerzeugungssystem verwandelt hätte? Durften zweitens die Tschechoslowakei und seit 1993 die Slowakei ihren Teil der Anlagen zu Ende bauen? Und drittens die wichtigste Frage: Welche Konsequenzen folgen daraus?

In der Weltöffentlichkeit war die Bewertung 1989 eindeutig. Auf der einen Seite stand das kleine, tapfere Ungarn. Dessen reformgesinntes Parlament beschloß im Mai 1989 den Rückzug aus dem Projekt des „sozialistischen Größenwahns“ von 1977 mit Kraftwerkanlagen und Staustufen. Auf der anderen Seite stand die Tschechoslowakei, wo die Kommunistische Partei noch unangefochten herrschte und auf Einhaltung der Verträge pochte. Dreiviertel der Anlagen im (tschecho-)slowakischen Abschnitt waren 1989 bereits fertig.

Das Freund/Feind-Denken ist in den beiden Nachbarländer bleibt bis heute vorherrschend. Im ungarischen Donauknie begann die Renaturierung der Baustelle von Nagymaros. Indes setzte sich in Gabcikovo die junge slowakische Republik ein Denkmal aus Beton, ein „Wir sind jetzt endlich wer“. Und das im parteiübergreifenden Konsens gegen das Ungarn, das die Slowakei ein Jahrtausend lang regierte. Seither bringt die Slowakei damit die ungarischen Nationalisten zur Weißglut, die der unerschütterlichen Überzeugung sind, die ungarische Minderheit sei diktatorisch unterjocht, wogegen nur der Anschluß ihres Siedlungsgebiets an Ungarn helfe.

Unschwer vorauszusehen, daß in der ersten Anhörungswoche die Ungarn im günstigen Licht dastehen werden. Dabei haben die slowakischen Anwälte, denen die zweite Woche gehört, gute Chancen, daß die Richter tatsächlich auf Vertragsbruch erkennen – daher auch die Ruhe in Bratislava. Denn der Gerichtshof befindet nur über die juristischen Aspekte, nicht über die ökologischen.

Spielräume für Kompromisse hat das ungarische Parlament durch seine Beschlüsse von 1989 bis 1992 kaum gelassen. Im Gegenteil: Es verlangt allen Ernstes den Abriß der Anlagen auf slowakischem Gebiet. So könnte die slowakische Regierung mit dem Status quo – Gabcikovo ist längst in Betrieb – ganz gut leben. Die Aufregung in Ungarn hat zwei Ursachen. Zum einen ist die Donau, die immerhin Staatsgrenze ist, von der slowakischen Seite in einen Zulaufkanal nach Gabcikovo umgeleitet worden. Zum anderen reicht das Restwasser der Altdonau bei weitem nicht aus, den Wassermangel infolge des abgesunkenenen Grundwasserspiegels zu lindern.

Die Folge: Die Wälder sterben, und Schadstoffen lagern sich ab. Die Empörung im ungarischen Parlament hat aber auch innenpolitische Ursachen. Ein ungarisch- slowakischer Regierungszirkel auf mittlerer Ebene hat nicht nur eine außergerichtliche Einigung erörtet – sie allein wird von der Opposition bereits als Aufweichung der ungarischen Verhandlungsposition betrachtet. Zum Entsetzen der Umweltschützer ist dabei, um die Schiffbarkeit der Donau zu verbessern, auch der Bau einer weiteren Staustufe diskutiert worden.