Das Szenario für eine Schöne Neue Welt

Schattenläufer heißen sie, die jungen Menschen, die im Jahr 2055 für anonyme Auftraggeber Infos aus Computern klauen. Eine Vision  ■ von Hans Joachim Alpers

Michail Waleczky wird am 13. April 1996 in einem Container in Buchholz in der Nordheide geboren. Der Container ist die neue Wohnung der Waleczkys und steht zusammen mit einunddreißig anderen in einem Dorf nahe der Bahnstrecke. Igor und Irena Waleczky, Michails Eltern, sind aus einer Kolchose in der Nähe von Nowosibirsk nach Deutschland gekommen. Ihre neuen Nachbarn sind Flüchtlinge aus Bosnien sowie Asylanten aus Rumänien, hauptsächlich Roma, und es gibt täglich Streit. Die Waleczkys sprechen und verstehen nur wenig Deutsch und wissen noch weniger über die neue Heimat.

Aus Angst, abgewiesen zu werden, weil sie kein Geld hat, ist Irena weder zu Schwangerschaftsuntersuchungen noch ins Krankenhaus gegangen, als die Wehen einsetzen. Igor schneidet die Nabelschnur durch, und erst als Irenas Nachblutungen nicht aufhören wollen, rennt er zur nächsten Telefonzelle und ruft in seiner Verzweiflung die Polizei an. So gelangen Irena und ihr zwei Stunden alter Sohn schließlich doch noch in das Kreiskrankenhaus.

Als Michail eingeschult wird, hat die Familie eine schäbige Altbauwohnung im Hamburger Stadtteil Ottensen gefunden; sie heißt jetzt Walez, ein nicht sehr tauglicher Versuch seines Vaters, durch eine Namensänderung den Kindern die gröbsten Anfeindungen und abfälligen Bemerkungen einiger Mitbürger zu ersparen.

„Dieser Gruftie-Scheiß hält uns nur auf. Wir müssen zurück! Lange können uns die Messerklauen nicht mehr den Rücken freihalten.“

„Warte, Chummer. Die Datei hat etwas mit Walez zu tun!“

Ungefähr zu der Zeit, als Michail Walez eingeschult wird, kommt in einer Blankeneser Privatklinik Carolina Maria Catharina Barenkamp zur Welt. Genaues Geburtsdatum ist der 17. Februar 2002. Carolina ist die erste und bleibt die einzige Tochter eines erfolgreichen Holzkaufmanns und einer Professorin für Kunstgeschichte, die eine alte Jugendstilvilla in Othmarschen ihr eigen nennen.

Carolina wird in ein unruhiges Jahr hineingeboren, das Hamburg in besonderem Maße in Mitleidenschaft zieht. Im Jahre 2002 kommt es in Deutschland zu dramatischen Umweltkatastrophen. Aus den Mülldeponien der früheren DDR sickern Gifte aller Art ins Grundwasser, riesige Gebiete in Mecklenburg-Vorpommern müssen gesperrt werden, die Ostsee kollabiert.

Die vorgezogenen Bundestagswahlen bringen einer Koalition von SPD und Bündnis 2000 die Mehrheit. Globaler Temperaturanstieg hat zu leicht gestiegenen Pegelständen der Nordsee geführt, und am 19. November 2002 kommt es bei einer Sturmflut zu den verheerendsten Überschwemmungen seit Menschengedenken. 30.000 Menschen kommen durch die Flut oder infolge von Vergiftungen um. Wäre nicht die letzter Minute die Notabschaltung der KKW an der Unterelbe erfolgt, hätte die Katastrophe noch ganz andere Dimensionen angenommen. Sowohl Othmarschen als auch Ottensen entgehen dieser ersten Flut, während die Hamburger Innenstadt schwer in Mitleidenschaft gezogen wird.

Der schweren Wirtschaftskrise entgehen die Bürger beider Stadtteile nicht. Igor Walez wird arbeitslos, und die Familie lebt von Sozialhilfe, Carolinas Familie verliert die Hälfte ihres Vermögens. Aber diese Hälfte ist immer noch weit mehr, als Igor Walez in seinem ganzen Leben je verdienen wird. Und die Jugendstilvilla bleibt den Barenkamps auch erhalten.

Als im Jahr 2008 Bayern und Baden-Württemberg versuchen, sich vom Bund und seiner Flüchtlingspolitik zu lösen, putscht das Militär und setzt einen Militärrat unter General Stöckter als Regierung ein. Dies ist das Ende der Bundesrepublik Deutschland in der bisherigen Form. Carolina ist sechs Jahre alt, als dies passiert, und wird gerade eingeschult. Sie interessiert sich mehr für Kuscheltiere als für das Militär.

Michail ist vierzehn und besucht die Mittelschule, als am 9. Februar 2011 Orkanböen der Stärke 13 das Wasser der Nordsee gegen die deutschen und niederländischen Deiche peitschen. Die Deiche brechen in Holland und Ostfriesland, ganze Landstriche verschwinden in den Fluten, die Küstenlinien bleiben dauerhaft verändert. Küstenstädte wie Bremerhaven, Cuxhaven, Wilhelmshaven und Emden versinken in den Fluten.

Im Jahre 2021 ist Michail fünfundzwanzig Jahre alt. Er hat eine kaufmännische Lehre absolviert, in der Abendschule sein Abitur nachgeholt, ein aus eigener Kraft finanziertes Universitätsstudium abgeschlossen und beginnt ein Referendariat als Gymnasiallehrer. Othmarschen und Ottensen sind Stadtteile, die aneinandergrenzen und die zugleich durch Welten voneinander getrennt sind. Aber in einem Studienseminar verschwimmen die Grenzen zwischen den Welten. Michail Walez lernt dort ein Mädchen kennen. Sie heißt Carolina Maria Catherina Barenkamp. Die beiden verlieben sich ineinander. Gegen den allerheftigsten Widerstand von Carolinas Familie werden sie schließlich ein Paar. Das verzeihen ihr die Eltern nicht. Jugendstilvilla ade.

Das Jahr 2022 findet die beiden Junglehrer ohne Stellung in einer Welt des Zusammenbruchs, der Neuorientierung und des Neuaufbaus. Carolina, die aus einer Laune heraus Türkisch studiert hat, findet schließlich eine Anstellung als Lehrerin im Türkisch-Deutschen Hilfswerk und zieht mit ihrem Mann nach Berlin. Sie kommen in eine von Unruhen und Aufständen jeder Art erschütterte Stadt. Die inzwischen wieder aus freien Wahlen hervorgegangene deutsche Regierung und das Parlament ziehen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Hannover um.

Am 7. Juli 2023 kommt das einzige Kind von Michail und Carolina zur Welt, ein Junge, der in einer Zeremonie der russisch-orthodoxen Kirche auf den Namen Thorbjörn Alexander Iwan getauft wird. In die russisch-orthodoxe Kirche ist Michail eingetreten, als sein Vater Igor aus der evangelischen Kirche austrat. Eigentlich wollte er damit nur seinen Vater ärgern, aber später wird die Kirche für ihn ein Stück Identifikation mit jenem russischen Erbe, von dem seine Eltern nichts mehr wissen wollen. Der Dreifachvorname ist Carolinas Beitrag zum Taufakt.

Als Thor 2029 eingeschult wird, wissen die Behörden zuerst gar nicht, wer er ist. „Virus“ hat zugeschlagen und sämtliche staatlichen und die meisten konzerneigenen Datensysteme vernichtet. Die Folge ist ein Chaos auf allen Ebenen, das vor allem die Wirtschaft erschüttert und kleine Betrieben reihenweise über die Klinge springen läßt. Als Achtjähriger steht Thor an der Straße und sieht zu, wie Panzer Richtung Osten rollen, um die russischen Angriffe auf das Baltikum und auf Polen zu stoppen. Am Ende dieses ersten Kapitels der Eurokriege sind 250.000 Tote zu beklagen.

„Mir reicht es jetzt! Vergiß Walez! Er ist dead'n'gone!“

„Nur verschollen, Chummer, nur verschollen. Vielleicht erfahren wir mehr.“

Thor ist zehn Jahre alt, als die islamischen Fundamentalisten zum Großen Dschihad, der Befreiung aller Muslime in nichtislamischen Staaten, aufrufen. Überall in Europa kommt es zu Aufständen und Kriegen, als deren Folgen eine Fülle von islamischen Enklaven und Kleinstaaten entstehen. Dieses Mal sind die Walez' unmittelbar betroffen. Kreuzberg wird zum Zentrum des Berliner Aufstands und hermetisch von der übrigen Stadt abgeriegelt. Es kommt zu Übergriffen gegen nichtislamische Bewohner, bei denen Michail schwer verletzt wird. Das Emirat Kreuzberg wird ausgerufen. Carolinas gute Kontakte zum Türkisch- Deutschen Hilfswerk bewirken am Ende, daß sie, ihr Mann und Thor das Emirat verlassen dürfen.

Ohne Wohnung und Arbeit findet die Familie schließlich Unterschlupf bei Michails einzigem überlebenden Bruder Arkadij, der es in Schneverdingen, einer kleinen Stadt in der Lüneburger Heide, zu einer bescheidenen Existenz als selbständiger Handwerker gebracht hat.

Die Walez' sind jetzt Bürger des Norddeutschen Bundes, zu dem sich die Reste der früheren Bundesländer Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Bremen und Mecklenburg zusammengeschlossen haben. Dieser neue Bund kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Deutschland immer mehr auseinanderbricht. Pogrome gegen Ausländer und Andersdenkende verschärfen die Lage.

Die Angegriffenen wehren sich, fordern eigene Enklaven und setzen sie durch. Die eigentlich Mächtigen im Lande sind jedoch die Megakons mit ihren eigenen Gesetzen und ihren Schutztruppen. Sie dominieren die Metroplexe und Sprawls wie Rhein-Ruhr, Groß- Frankfurt, Nürnberg-Fürth-Erlangen, Hamburg und Berlin. Doch die Megakons sind keine homogene Gruppe. Jeder verfolgt seine eigenen Interessen.

Informationen sind zur heißesten Ware im Konkurrenzkampf geworden. High-Tech, Megakons und organisiertes Verbrechen sind die bestimmenden Kräfte in Deutschland wie überall auf der Welt. Und irgendwo dazwischen, in den Grauzonen, in den Schatten, bewegen sich die Schattenläufer. Für anonyme Auftraggeber, die „Schmidts“, oder auf eigene Rechnung beschaffen sie jene Daten, nach denen die Mächtigen gieren. Sie sind Straßenkämpfer und Überlebensspezialisten, und einige haben sich darauf spezialisiert, in den Cyberspace – das Netz, die weltumspannende Matrix, die alle Computersysteme miteinander verbindet – einzutauchen, andere sind zur Symbiose mit Maschinen fähig.

In der Lüneburger Heide wird es Thor zu langweilig. Mit fünfzehn kehrt er nach Berlin zurück und wohnt bei türkischen Freunden seiner Eltern. Er wird Mitglied der „Chrom Rippers“, einer Straßengang von Gleichaltrigen. Sie sind zwölf Jungen und neun Mädchen, alle unter sechzehn. Sie reden sich mit „Chummer“ an, wie die Schattenläufer. Die meisten Kids im Metroplex träumen davon, später einmal durch die Schatten zu laufen.

Am meisten imponieren ihnen die Straßensamurai mit ihren martialischen Waffen oder die Cyberware der Rigger, die sich mit Maschinen verstöpseln. Aber Cyberdecks und High-Tech-Waffen sind für sie unerschwinglich. Implantierte Chips für simulierte Sinnesempfindungen sind billiger. SimSinn ist geil.

Thor hat Glück. Eine Narbe am Knie ist alles, was ihn später an die Chrom Rippers erinnern wird. Er hat nie davon geträumt, eine Messerklaue zu werden. Aber die Decker mit ihren Stirnbuchsen, die sich in Computer einstöpseln, faszinieren ihn. Das ist sein Ding. Er schneckt am Terminal durch das Netz und weiß, daß er sich eines Tages selbst in den virtuellen Welten bewegen wird. Illegal. Als Decker. Als Schattenläufer. Er kennt die Gefahren. Virtuelle Ungeheuer, mit denen die Konzerne ihre Daten schützen.

Intrusion Countermeasures: „Schwarzes Eis“, tödliches Eis. Wenn es den Datendieb erwischt, brennt es ihn aus. Tod im Netz. Der strafende Arm des Megakons durch alle Netzknoten und Ports direkt in das Hirn des Deckers. Thor weiß davon, aber es kümmert ihn nicht. Ein guter Decker besiegt das Eis. So einfach ist das für ihn.

Thor ist neunzehn und weit vom Schuß, als Vulkanausbrüche in der Eifel das Land verwüsten, Lavaströme den Rhein sperren, zur Überschwemmung des Neuwieder Beckens und zur Aufgabe von Koblenz führen. Für ihn steht eine private Katastrophe im Vordergrund. Ihn erreicht die Nachricht vom Tod seiner Eltern und der Familie des Onkels Arkadij.

Eine Bande marodierender früherer Söldner in den verschiedenen Grenzkriegen auf dem Balkan ist über Schneverdingen hergefallen und hat Hunderte von Menschen geschändet, getötet und den halben Ort angezündet, bevor der Bundesgrenzschutz eingreifen und die Marodeure niedermachen kann. Thor ist jetzt auf sich allein gestellt. Seine Großeltern leben noch immer in ihrer Jugendstilvilla im Hamburger Othmarschen, aber Thor hat sie nie kennengelernt. Sie haben die Einladung zur Taufe abgelehnt und wollen ihren Enkel auch später nicht kennenlernen. Er taucht hinab in die Schatten.

„Wir sind zu nah an der CPU! Hier dürfen wir nicht bleiben! Sonst erwischt uns das Schwarze Eis!“

„Schade, es ist wirklich nur eine fragmentierte Geisterdatei. Okay, Chummer, wir stöpseln uns aus.“