„Amerikanische Verhältnisse keine Bedrohung“

■ Matthias Jung (40) von der Forschungsgruppe Wahlen in Mannheim über die hessischen Kommunalwahlen: Gesunkene Wahlbeteiligung ist Ausdruck einer Normalisierung

taz: Die meisten politischen Kommentatoren haben nach den Kommunalwahlen in Hessen die geringe Wahlbeteiligung in den Mittelpunkt gerückt. Nur 66 Prozent der Bürger wollten ihre kommunalen Parlamente mitwählen. Machen Sie sich auch Sorgen?

Matthias Jung: Nein, aber eine niedrige Wahlbeteiligung war es auf jeden Fall – zumal in Hessen, wo traditionell immer mehr Menschen als in anderen Bundesländern wählen gegangen sind.

Drohen uns amerikanische Verhältnisse, wo oft nicht einmal die Hälfte der Wahlbürger ihre Stimmzettel abgibt?

Als Bedrohung empfinden die Amerikaner das nicht. Für die Bundesrepublik stelle ich nur fest, daß es ganz allgemein, da ordnet sich Hessen nur in den Trend ein, einen Rückgang der Wahlbeteiligung gibt.

Woran liegt das?

Auch an einer Normalisierung. In den fünfziger und sechziger Jahren zeichneten sich die Bundesdeutschen im internationalen Vergleich durch eine untypisch hohe Wahlbeteiligung aus. Damit wollten sie ihre demokratisch geläuterte Gesinnung zum Ausdruck bringen. Diese Einflüsse haben natürlich abgenommen.

Kam in Hessen die niedrige Wahlquote auch dadurch zustande, daß dort erstmals EU- Ausländer mitstimmen durften?

Wir gehen mit Sicherheit davon aus. Aber verläßlich Zahlen gibt es leider nicht, die zu ermitteln, ist gesetzlich nicht möglich. Eine Reihe von Indikatoren deuten aber darauf hin, daß die EU-Ausländer sich verständlicherweise nur zwischen 20 und 25 Prozent an den Kommunalwahlen beteiligt haben.

Was ist daran verständlich?

Nun, das fängt damit an, daß es bei EU-Ausländern auch Sprachprobleme gibt, das haben unsere Umfragen ergeben. Zudem ist die Verbundenheit mit dem Wohnort (noch) nicht bei allen so groß. Auch Deutsche, die häufig ihren Arbeitsplatz und Wohnort verändert haben, gehen seltener zu einer Kommunalwahl als Menschen, die ihre Gemeinde länger kennen.

Können sich Politiker eigentlich noch legitimiert fühlen, wenn sie nur von zwei Dritteln der Wahlberechtigten gewählt wurden?

Ja. Wer nicht zur Wahl geht, ist entweder desinteressiert, will protestieren oder ist im großen und ganzen mit dem, wie es läuft, einverstanden. Man weiß es aber nicht genau. Die Legimation ist objektiv aber auf jeden Fall nicht behindert.

Ist das nicht ein Problem für die sogenannten Volksparteien?

Deren Problem liegt nicht in erster Linie in der gesunkenen Wahlbeteiligung, sondern darin, daß die drei Parteien zusammen heute deutlich weniger Wähler hinter sich bringen können als noch vor 20 Jahren.

Sollte man nicht, wie in Griechenland oder Belgien, eine Wahlpflicht einführen?

Nein, denn wie soll Legitimiät mit Zwang ausgeübt werden? Auch in den beiden genannten Ländern werden nicht 100 Prozent Wahlbeteiligung erreicht. Das Recht zu wählen ist die wertvollste Bürgerpflicht ...

... Pflicht?

Ich meinte natürlich ein Bürgerrecht. Das Recht, zu wählen, ist eines der großen Privilegien, die wir in den letzten 100 Jahren bekommen haben. Es liegt an jedem selbst, dieses zu nutzen oder auch nicht. Interview: Jan Feddersen