Darauf einen Klaren

■ Eine Gruppe Schüler übt zum erstenmal zivilen Ungehorsam, einige Polizisten sträuben sich, die strahlenden Behälter zu schützen

Sie haben sich ordnungsgemäß vom Unterricht abgemeldet – wegen „Teilnahme an Protesten“ – und sind mit Vaters Auto von Frankfurt ins Wendland gefahren. Jetzt sitzen sie eingekeilt zwischen unzähligen Mitstreitern auf einer Straße und sind dankbar für das Stroh. Das haben ihnen die örtlichen Bauern zwischen Hintern und Pflaster geschoben. Und solange alles friedlich bleibt, verleiht es der Aktion den Hauch eines gigantischen Krippenspiels.

Es ist das erste Mal, daß Rebecca Viehl, Lars Krause, Stefan Mathijssen und sein Bruder Andreas zivilen Ungehorsam üben wollen. Trainiert haben sie schon mal, aber das ändert nichts an der Mulmigkeit, die sich in die Euphorie mischt. Stefan hat „keine Lust auf Chaoten“, Lars überlegt, wann sich sein Mitleid für die Polizisten wieder ins „alte Feindbild“ auflöst, und Rebecca spekuliert, welche Blessuren unangenehmer sind: solche, die durch einen Polizeiknüppel oder durch den Strahl eines Wasserwerfers ausgelöst werden.

„Wasserwerfer“, lautet bei Eiseskälte die einhellige Antwort der Gruppe von Oberschülern, die hierhergekommen sind, „weil man im Leben halt Prioritäten setzen muß“. Wobei „setzen“ in diesem Fall wörtlich zu nehmen ist. Die Menschenmenge der „X-tausendmal quer“-Blockade hat sich genau vor dem Tor des Verladebahnhofs niedergelassen, in dem die sechs Castor-Behälter von der Schiene auf die Tieflader gehievt werden sollen, bevor die letzte Wegstrecke des Transports von Dannenberg nach Gorleben beginnt. Vom Zug aber ist auch zwei Stunden nach der geplanten Ankunft noch nichts zu sehen. Statt dessen sorgen Nachrichten von der Gleisstrecke für lauten Beifall. Unumstrittene Helden dieser Nacht sind jene zwei Atomgegner, die aus einem Waldstück bei Dahlenburg herausspaziert waren und sich mit Beton, Eisen und Schweißgerät so hartnäckig in die Schiene verbissen hatten, daß die Polizei gleich ein Stück herausschneiden mußte. Kein gutes Omen für weitere Castor-Transporte nach Gorleben, die es nach Rebeccas Überzeugung „eh nicht mehr geben wird. Das ist der letzte.“

Schließlich rollt der Zug in den frühen Morgenstunden statt wie geplant um 17.25 Uhr ein – was nicht nur zu einem gellenden Pfeifkonzert, sondern auch zu einem Scharmützel zwischen Autonomen und Polizei in Dannenberg führt. Doch um diese Zeit haben andere Aktivisten längst Feierabend gemacht. Im Gasthaus von Splietau, das bei Nacht nur nach vorsichtigem Umfahren zahlreicher Barrikaden erreicht werden kann, picheln Punker, Autonome und Bauern und dreschen Skat. Letztere sind bester Laune. Mit ihrem Überraschungscoup zur sonntäglichen „Stunkparade“, bei der sie 70 Traktoren verkeilt und in eine Maschinen-und-Reifen-Barrikade verwandelt hatten, haben sie dem Castor-Transport faktisch eine von zwei möglichen Routen nach Gorleben versperrt. Darauf noch einen Klaren.

Der Wettergott meint es gut mit den Demonstranten. Sonnenschein weckt die Blockierer im Strohbett, von denen sich viele aus Plastikplanen einen Kokon gebastelt haben, an dem jetzt der Morgentau abperlt. Die wenigsten interessieren sich jetzt für die silbern glänzenden Castor-Behälter, die ein paar Meter weiter verladen werden. Es gilt, grundsätzlichere Bedürfnisse zu befriedigen. Auf dem Acker neben der Straße ist weit und breit nur ein Toilettenhäuschen zu sehen. Stefan führt mit etwas zittriger Hand ein paar Kekse zum Mund. Rebecca ist froh, daß man gar nicht erst erwogen hat, sich irgendwo anzuketten. „Ketten sind kalt.“ Von links nähert sich plötzlich ein knatterndes Geräusch, das wie eine Mischung aus Maschinengewehrfeuer und Rieseninsekt klingt. Mitarbeiter der Umweltschutzgruppe „Robin Wood“ marschieren mit einem Geigerzähler die Castor-Behälter ab und verstärken dessen Ausschläge über ein Megaphon. Die BGS-Beamten, die den Zug schützen, sehen alles andere als entzückt aus. „Schütz du doch das Ding“, sagt einer zum Kollegen. „Ich bin noch jung. Du hast schon Kinder.“ In der Frontscheibe ihres Mannschaftswagens prangt weithin sichtbar das Flugblatt der „Kritischen Polizisten“. „Du mußt nicht mitmachen“, steht da zu lesen.

In ein paar Stunden, wenn zur Räumung der Straße geblasen wird, werden sie natürlich alle mitmachen. Lars hat dann wieder sein altes Feindbild und Rebecca hoffentlich immer noch trockene Hosen. Es wird ein paar Stunden dauern, bis die ersten hundert Meter für die Tieflader freigeräumt sein werden. Und dann sind es immer noch 18 Kilometer bis Gorleben. Andrea Böhm, Dannenberg