Glaube, Liebe, Bandenwesen

■ Auf der Jagd nach dem Glücksziegel: Jáchym Topols Prager Beatnik-Roman

Jáchym Topol, Shooting-Star der Prager Literaturszene, weiß, wovon er schreibt. Jahrelang hat er im realsozialistischen Untergrund gelebt, eine Zeitung herausgegeben (Revolver Revue) und die Texte für die Rockband seines Bruders geschrieben. Den fünften Prager Bezirk Smichow und seine Junkies und kleine Banditen kennt er genau. Brennpunkt der Hehler, Dealer und allerlei lichtscheuer Leute ist die Gegend rund um die Metrostation Anjel, zu deutsch: Engel. Hier soll ein Prager Rabbi die Himmelfahrt des von Kosaken aus seinem Schtetl verjagten Abraham Anjel verfolgt haben.

Der Held, Jatek, aufgewachsen in einer Bibliothek, sehnt sich „wie die Kraniche“ nach Unabhängigkeit. Seine Jugend hat er mit „instinktivem Aufderfluchtsein vor der Polizei verläppert“. Er macht verschiedene Jobs, verteilt Flugblätter und geht zu verbotenen Demos. Er ist ein Gelegenheitsarbeiter von der Sorte, die vor 1989 ohne großes Aufhebens an einen jener Orte verfrachtet worden wären, die Beneš, Kundera und Kratochvil bereits als Arbeitslager beschrieben haben.

Um das zu vermeiden, läuft Jatek immer in Arbeitskluft herum. Manchmal feuert er irgendwo Öfen, bis sie ihn wieder rauswerfen, manchmal dealt er, bis er schon mal freiwillig einen Entzug in der Klapsmühle einschieben muß. Eines Tages zieht in das Haus, wo er mit allerlei lichtscheuen Typen wohnt, Ljuba ein, in die verknallt er sich. Ljuba, das heißt auf deutsch „Liebe“.

Dennoch, nach der Wende seilt Jatek sich erst mit einer anderen, mit Vera (deutsch: Glaube), nach Paris ab, wo ihm zufällig beim Drogenbasteln das Ticket zur Glückseligkeit gelingt: ein sehr gefragter Trip. Jetzt scheint der Loser Jatek endlich Karriere zu machen, er gelangt zu Geld und Beliebtheit. Dennoch haut er von Paris ab, läßt Vera und seine Freunde hängen, kehrt nach Prag und zu Ljuba zurück.

Einige vermeintliche Kumpels sind scharf auf den Glücksziegel und machen ihm und seiner schwangeren Braut das Leben schwer. Die Verhältnisse haben sich verändert, seit der Wende hat sich ein veritables Bandenwesen in den Prager Vorstädten entwickelt, Glücksritter- und Goldgräbertum feiern fröhliche Urstände, jeder will ohne Zimperlichkeiten rasch reich werden.

Da knallt's schon mal, da sitzen Messer locker, da gehen Lokale in die Luft. Ein furioses Finale mündet in die Ausgangssituation, wieder ist der Himmel über dem Engel purpurrot entflammt, zerspringt, verbrennt ...

Topol, Jahrgang 1962, gehört zu einer jungen Generation tschechischer AutorInnen, die der Erinnerungs- und Aufarbeitungsliteratur entgegenhalten, daß mit 1989 „die Zeit explodiert“ ist, daß die in den Porenbau der Gesellschaft eindringende neue Zeit die Welt aus den Fugen gehoben hat. Nichts ist mehr so, wie es war, die Wende hat die Verhältnisse revolutioniert, nur die Leute haben sich kaum verändert. Für die jüngeren tschechischen Literaten bedeutet das einen breiten Spagat zwischen der amerikanischen Beatnik-Literatur, die in den Jahren vor der Wende verstärkt rezipiert worden ist, und dem auf seine Weise postmodernen Osten. Balduin Winter

Jáchym Topol: „Engel exit“. Erzählung. Aus dem Tschechischen von Peter Sacher. Verlag Volk & Welt 1997, 211 Seiten, 29,80 DM