Vor dem Bürgerkrieg

Im Süden Albaniens verläuft die Frontlinie. Soldaten und Freiwillige warten hier auf ihren Einsatzbefehl  ■ Aus Fier Erich Rathfelder

Langsam quälen sich schwerbeladene Lastwagen der albanischen Armee in Richtung Süden. Die Straße von Tirana zur Hafenstadt Durräs ist schon wenige Kilometer hinter der Hauptstadt von Schlaglöchern übersät und holprig. Munition, Waffen, Verpflegung, Benzin. Der Nachschub für eine größere Militäraktion ist auf den Weg gebracht.

An jeder Straßenkreuzung stehen schwerbewaffnete Zivilisten und Polizeibeamte und prüfen unter der angenehmen Sonne dieses Frühlingstages die Papiere der Reisenden. Je weiter es in den Süden geht und je näher das Zentrum der Aufständischen, die rund 130 Kilometer von Tirana gelegene Hafenstadt Vlorä, rückt, um so nervöser gebärden sich die Bewaffneten. Kurz vor der Stadt Fier, nur noch dreißig Kilometer von Vlorä entfernt, rückt ein Schützenpanzer unvermittelt auf die Straße und zwingt alle Fahrzeuge zum Halten. Aus dem Fenster eines Polizeiwagens werden Schüsse aus einer Kalaschnikow abgegeben. Das sei nur so zum Spaß, um Druck abzulassen, erläutert einer der Posten.

An der Ausfallstraße des Städtchens Fier in Richtung Vlorä sind alle Tankstellen geschlossen. Überall sind Wachen aufgezogen. Auf einem Hügel oberhalb der Straße sind Soldaten und bewaffnete Zivilisten in Stellung gegangen. Hier ist Endstation für alle Journalisten. Wenige Kilometer weiter verläuft die Demarkationslinie, die den aufständischen Süden vom Norden trennt. „Sie müssen umkehren!“ befehlen die Wachen und richten ihre Waffen mit unmißverständlicher Geste auf die Reisenden. Nur Armeefahrzeuge dürfen passieren.

Eine regelrechte Frontlinie ist aufgebaut. Sieben T-55-Panzer der Armee mit schweren 105-mm-Kanonen, die am Dienstag nachmittag hier eingetroffen sind, sind inzwischen in Stellung gebracht worden. Die Männer an dem Kontrollpunkt zeigen ihre Bereitschaft, sofort zuzuschlagen, wenn sie den Befehl erhalten. „Wir räuchern die Terroristen und Kommunisten in Vlorä aus“, sagt eine der Wachen, ein für diesen Zweck mobilisierter Lehrer, noch zum Abschied. Die Propaganda der Regierung, die alle Menschen in Vlorä zu „Kommunisten“ abgestempelt hat, ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Aber grünes Licht zum Eingreifen ist aus Tirana noch nicht gekommen. Die Männer am Kontrollpunkt geben sich dennoch betont martialisch. Es ist nicht zu erwarten, daß sie der aufständischen Bevölkerung im Süden Pardon geben werden. Streitkräfte und Sicherheitsapparat scheint eine regelrechte Kriegspsychose gepackt zu haben.

Gerüchte besagen, daß in der Nacht Hubschrauberangriffe auf den Süden geflogen wurden. Eine offizielle Bestätigung läßt sich nicht erhalten. Am Mittwoch morgen dementiert die Regierung. Die Berichte seien schlicht falsch. Auch die nach Italien geflohenen Piloten hätten keinen Befehl gehabt, auf Zivilisten zu schießen. Die Armee habe nur den Befehl, auf „bewaffnete Terroristen“ zu schießen, sagt ein Regierungssprecher. Die Frage, ob und wann die Armee weiter in den Süden vorrücken wird, bleibt unbeantwortet. Die Telefonverbindungen in den Süden bleiben gekappt. Es herrscht Nachrichtensperre.

Aber was hat nur die jetzige Kriegspsychose ausgelöst? Woher kommt die offensichtliche Bereitschaft, auf die Landsleute im Süden zu schießen? In einem Café in Fier, wo griechisches Fernsehen empfangen wird, wissen die Männer an einem Nachbartisch auch keine Antwort auf diese Frage. Sie blicken schweigend auf ihren Espresso. Lediglich ein Besucher bittet nach einiger Zeit die Reporter nach draußen.

„Die Leute in Vlorä sind enttäuscht“, erklärt er und gibt damit zumindest Verständnis für die Aufständischen zu erkennen. Viele Leute in Fier dächten so, jedoch traue sich aus Angst vor Spitzeln niemand, offen darüber zu sprechen. Auch in dieser Stadt habe es Demonstrationen wegen des Zusammenbruchs von Investmentgesellschaften gegeben. Auch hier wollten die Leute ihr Geld zurück. „Wenn Berisha von Kommunisten und Terroristen spricht, die es zu bekämpfen gilt, soll er sich in seiner eigenen Umgebung umsehen“, sagt der Mann. Die Aufständischen hätten nicht einmal eine Organisation. Wenn man eine Lösung des Konfliktes wirklich wolle, müsse man jetzt verhandeln.

Ein Gespräch mit den oppositionellen Sozialisten hatte Präsident Sali Berisha am Dienstag abend ergebnislos abgebrochen. Berisha, nach außen hin ruhig wirkend, ist in Wirklichkeit ein aufbrausender Mensch. Die Schmach, in einigen Regionen einem regelrechten Volksaufstand entgegensehen zu müssen, will er sich offenbar nicht eingestehen. „Die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung und der vollen Integrität des Landes ist das dringlichste Ziel“, erklärt der Präsident im Fernsehen. Und rechtfertigt damit die Beibehaltung des Ausnahmezustandes. Gegen die „Kommunisten“ will er vorgehen. Aber Berisha selbst war Kommunist. Und gegen Kriminelle und Terroristen, wie er sagt. Natürlich gibt es Kriminelle unter den Aufständischen. Aber die sind auch in der nächsten Umgebung der Regierung anzutreffen.

Verläßliche Informationen aus den südlichen Hafenstädten Vlorä und Sarandä gibt es nicht. Lediglich einem griechischen Fernsehteam ist es gelungen, von Griechenland her in die Region zu gelangen. Bilder von schwerbewaffneten Jugendlichen und an Maschinengewehren spielenden Kindern gehen seither um die Welt. Und die albanische Marine wird sich wohl noch die Frage gefallen lassen müssen, warum und wie sieben ihrer Kriegsschiffe im Süden von einer Meute bewaffneter Aufständischer gekapert werden konnten.

Sicher ist, daß die Aufständischen über 20.000 oder gar 30.000 Waffen verfügen. Organisiert sind sie nicht. Eine Autorität, die sie anerkennen würden, gibt es nicht. Die Studenten in Vlorä haben deshalb aus Protest ihren Hungerstreik abgebrochen. Vorstellbar ist durchaus, daß nun Kriminelle die Gunst der Stunde für ihre Aktivitäten nutzen. Gerüchte über Plünderungen und wilde Schießereien machen die Runde.

Die Lage für die Bevölkerung ist bedrohlich. Von der Armee eingekesselt, von jeder normalen Versorgung abgeschnitten, kann sie nur abwarten, was geschieht. Was soll nun eine Mutter mit drei kleinen Kindern machen? Ihre Forderungen und Wünsche öffentlich darstellen können die Menschen jetzt nicht. Und einem Dialog verweigert sich die Regierung. Eine friedliche Lösung scheint im Moment nicht gewollt.

Die tiefgreifende Krise der albanischen Gesellschaft nach 45 Jahren kommunistischer Diktatur und Abschottung vom Ausland äußert sich in totalitären Denkformen auf allen Seiten. Oder, wie ein Mann in Fier sagt: „Für alle Seiten gibt es nur schwarz und weiß, Freund und Feind, dazwischen gibt es nichts.“

In der Präfektur der Stadt will man über dieses Thema nicht reden. Immerhin ist der stellvertretende Präfekt bereit, einen Passierschein für die Fahrt nach Vlorä auszustellen. In Anbetracht der Lage könnte er damit seinen Posten riskieren. Bei der Rückkehr zum Kontrollpunkt wird das Schriftstück natürlich nicht akzeptiert. Wieder fuchteln die Soldaten mit ihren Waffen herum.

Die Straße zurück nach Tirana windet sich durch fruchtbare Felder. Am Straßenrand bieten Bauern frische Möhren und Salat an. Überall werden neue Häuser gebaut, die Aufteilung der Kolchosen hat viele Menschen zu Kleinbauern gemacht. Nur an einem Olivenhain führt noch ein Sträßchen zu den Wirtschaftsgebäuden eines landwirtschaftlichen Großbetriebes. Der Eingang ist nach wie vor mit einem roten Stern versehen. Und niemand stört sich daran. Auch jene nicht, die jetzt in den Süden zu ziehen, um den „Kommunisten“ den Garaus zu machen.

Die ärmlichen Hütten und der Unrat, die halbverhungerten Hunde und die bettelnden Kinder bilden einen scharfen Kontrast zu den neuerrichteten und modernen Tankstellen in der Nähe Tiranas, wo Luxuskarossen jüngster Bauart vorfahren. Der schnelle Reichtum wird im heutigen Albanien ungeniert vorgezeigt. Die Außenbezirke der Hauptstadt sind dagegen zu Slums verkommen, die sich in nichts von jenen Kairos oder São Paulos unterscheiden.

Entspannung ist auch in der Hauptstadt Tirana nicht zu spüren. Die Kontrollen sind überfallartig und bedrohlich. Acht uniformierte und schwerbewaffnete Polizisten sind aus einem Minibus gesprungen. Sie umstellen einen Wagen, der gerade von einem Polizisten angehalten worden ist. Ein blasser Mann steigt aus, hebt die Arme hoch. Auf der Hinterbank sitzen drei kleine Kinder.

„Das Ganze ist ein Krieg konkurrierender Mafiabanden“, sagt ein bekannter Intellektueller, der jedoch nicht namentlich zitiert werden möchte. Hinter Berisha stünden die Geschäftsinteressen von Kosovoalbanern, von Teilen der Mafia in Tirana und die wichtigsten ausländischen Mächte. Die Rebellion im Süden habe spontan begonnen, sei aber möglicherweise schon von konkurrierenden Mafiosi usurpiert. „Dies ist jedoch auch meinerseits Spekulation. Wir müssen endlich einen Dialog beginnen, die Öffentlichkeit muß über alle Vorgänge unterrichtet werden. Nur so kann man die Dinge noch friedlich regeln.“