■ Der Castor-Konflikt zeigt: Keine Regierung darf sich auf Dauer in Opposition zur eigenen Bevölkerung begeben
: Dem Volke folgen

Daß sich über die Nutzung der Atomenergie trefflich streiten läßt, wissen wir nicht erst, seit schwere Stahlcontainer mit potentiell tödlicher Ladung gen Gorleben rollen. Über 20 Jahre lang bekämpfen sich die Kontrahenten, ein Stellungskrieg mit Argumenten, nicht selten mit sehr handfesten. In jedem Fall bis zum Überdruß. Wenn sich die Wogen dieser Woche geglättet haben werden, gehört – endlich und ernsthaft – die Frage auf den Tisch, ob sich diese Gesellschaft die in den Parlamenten, Gerichten und auch auf der Straße ritualisierte Debatte weitere 20 Jahre leisten will. Und mit welchen Nebenwirkungen dann zu rechnen wäre.

Der vor fünf Jahren gestartete Versuch, alle Akteure auf einen „gesamtgesellschaftlichen Konsens“ zu verpflichten, war naiv. Er ist gescheitert. Nur das Wort ist geblieben. Faktisch sind auch die anfangs Wohlmeinenden längst in alte Konfrontationsmuster zurückgefallen. Fundamentalkonflikte – man hätte es vorher wissen können – sind ihrer Natur nach nicht konsensual zu regeln. Also müssen sie entschieden werden. Aber wie, von wem und nach welchen Kriterien?

Man mag es hören wollen oder nicht: Es gibt einleuchtende Argumente gegen die weitere Nutzung der Atomkernkräfte, es gibt aber auch wichtige dafür. Tausendfach wurden sie ausgetauscht, ohne daß sich die Kontrahenten nähergekommen wären. Für die Reaktorbauer und die dort Beschäftigten wiegen die Pro-Argumente schwerer, das ist banal und wird so bleiben. Außerdem für die Bundesregierung, die sie tragenden Parteien und die Industrieverbände. Für die Oppositionsparteien, die Kirchen, die Gewerkschaften, vor allem aber für eine atomkritische Mehrheit der Bevölkerung sind die Contra-Argumente entscheidend. Einmalig an dieser Konstellation ist ihre Unerschütterlichkeit. Die Kontrahenten beidseits der Barrikade kämpfen mit vollem Einsatz, doch der Effekt ist null. Seit dem Urknall von Tschernobyl, seit mehr als einer Dekade also, sind die Mehrheiten wie betoniert.

Die Betriebswirtschaftler der Betreiberkonzerne haben daraus früh ihre Konsequenzen gezogen. Um den Konflikt nicht weiter anzuheizen und damit auch noch ihre laufenden Kraftwerke zu gefährden, flüchteten sie 1989 aus Wackersdorf und erklärten Anfang der neunziger Jahre den Verzicht auf die Errichtung neuer AKW, in jüngster Zeit bis mindestens 2010. Eigentlich viel Raum für neue Überlegungen jenseits kurzatmiger Parteienstrategien.

Statt dessen nun im Jahresrythmus der Gorleben-Showdown, die jährliche Aktualisierung der atomkritischen Stimmung im Lande. Für das Publikum eine Demonstration der Unfähigkeit der Politik, zentrale gesellschaftliche Konflikte nähernd zu lösen. Die Bundesregierung muß die Frage beantworten, wie lange noch sie Geld, Intelligenz und Kraft in einen Konflikt investieren will, der mit konventionellem Politmanagement offensichtlich nicht zu befrieden ist und der volkswirtschaftlich (nach Berechnungen der Stromwirtschaft) bis heute weit über 30 Milliarden Mark gekostet hat.

Den parlamentarisch-demokratischen Regularien steht nicht entgegen, daß sich die Regierenden im Einzelfall gegen die Mehrheit der Regierten stellen, wenn erstere überzeugt sind, im „wahren“ Interesse letzterer zu handeln. Doch ein Freibrief für die Ewigkeit ist das nicht. Schon gar nicht, wenn diese Regierung ihre Position in immer kürzeren Abständen mit einem enormen Aufwand staatlicher Gewalt durchsetzen muß. Irgendwann, wenn sie das Volk nicht umstimmen kann, muß die Regierung den Fundamentalkonflikt entscheiden, und zwar im Sinne der Mehrheit – oder sie muß zurücktreten. Dieser Zeitpunkt rückt näher, und das unterscheidet den Atomkonflikt von allen anderen, die diese Gesellschaft umtreibt.

Es geht dann nicht mehr um die Frage, wer recht hat, die Befürworter oder die Gegner der Atomenergie, sondern um eine Frage der demokratischen Legitimität. Natürlich wäre es auf den ersten Blick ein unwirklich anmutender Vorgang, wenn der Bundeskanzler im Bundestag gegen seine, ihm unbenommene Überzeugung von der „Verantwortbarkeit der Nutzung der Kernenergie“ den Ausstieg verkündete. Aber hat nicht Ernst Albrecht seinerzeit ähnlich gehandelt, als er die Wiederaufarbeitung in Gorleben für „politisch nicht durchsetzbar“ erklärte?

Um den Gedanken zu Ende zu spinnen: Was würde Helmut Kohl und was die Gesellschaft gewinnen, was verlieren? Beide würden sich eines Konflikts entledigen, der längst die Energiepolitik insgesamt zum Stillstand gebracht hat. Unser Energiesystem entfernt sich dramatisch von den Erfordernissen der Zukunftsvorsorge und der Risikominimierung. Und dies obwohl der gesellschaftliche Konsens für Energieeinsparung, ihren effizienten Einsatz und die regenerativen Energiesysteme aus Sonne, Wind und Wasser seit vielen Jahren unbestritten ist. In Zahlen: Ein einziger Castor-Transport, durchgefightet gegen Demonstranten, die sich der Sympathie der Bevölkerungsmehrheit sicher sein dürfen, kostet 100 Millionen Mark, erneuerbare Energien fördert Bonn in diesem Jahr mit 18 Millionen. Die Atomwirtschaft, mit einem Anteil von 30 Prozent am deutschen Strommarkt, gibt nach eigenen Angaben 38.000 Menschen Lohn und Brot, die Windenergie mit einem Marktanteil um ein Prozent schon 10.000. Der Siemens- Konzern, einziger verbliebener Reaktorbauer im Lande, wartet seit 1982 auf einen Bauauftrag. Der Nuklearanteil am Gesamtumsatz dümpelt bei gut zwei Prozent. In fast 40 Jahren hat der Konzern ganze vier Kernkraftwerke ins Ausland geliefert und ans Netz gebracht. Fazit: Für den Standort Deutschland ist die Atomwirtschaft nahezu bedeutungslos.

Selbstverständlich wäre der Ausstieg aus 30 Prozent der gegenwärtigen Stromproduktion kein Kinderspiel, aber er wäre ohne jeden Zweifel machbar, besonders im Konsens von Politik und Gesellschaft. Käme der Ausstieg schrittweise, würde er die Volkswirtschaft weniger tangieren als etwa die Abschaffung des Kohlepfennigs im vergangenen Jahr.

Der Demokratie könnte es nur gut tun, würde die Politik in der Frage der Atomenergie – endlich – dem Volke folgen. Tut sie es nicht, bleibt das große X, das in diesen Tagen für den Castor-Protest steht. Wer in diesen Zeiten sehenden Auges 250 Millionen Mark dafür ausgibt, eine Betonhalle in Gorleben zu einem Fünfzigstel mit Atommüll zu füllen und dies Entsorgung nennt, der muß damit rechnen, daß ihm hinterher manches X abgeht. Auf dem Wahlzettel. Gerd Rosenkranz