"Die Linke redet, während das Boot brennt"

■ Für Bertrand Tavernier hat der Protest gegen das Einwanderungsgesetz "wenigstens ein bißchen die Ehre Frankreichs gerettet". Der Filmemacher über die Rolle der Intellektuellen heute und den Sozia

taz: Wie kamen Sie zu der Künstlerbewegung gegen den Immigrations-Gesetzentwurf?

Bertrand Tavernier: Ich bin schon eine Weile in der Richtung aktiv. Als mich jetzt Arnaud Desplechin und Pascale Ferran, zwei wirklich respektable junge Filmemacher, baten, meine Unterschrift unter die Selbstanzeige zu setzen, habe ich sofort unterzeichnet. Eine wunderbare Initiative. Ich bedauere, daß ich nicht selbst die Idee dazu hatte.

Hat die Bewegung Sie an die alten Zeiten des Politaktivismus erinnert?

Es stimmt, meine Militanz datiert nicht von heute. Aber diese Bewegung ist etwas Besonderes. Früher wurden Proteste von Parteien oder Gewerkschaften angestoßen. Hier waren es Bürger. Es gab ein großes Mißtrauen gegenüber den Parteien, selbst in der großen Demonstration. Ich habe noch Robert Hue [Chef der Kommunisten; d. Red.] vor Augen, der unbedingt neben Isabelle Béart gehen wollte. Andere Schauspieler sagten ihm: Nein, hier demonstrieren die Künstler. Keine Politiker. Das hat mich ein bißchen an die 68er-Bewegung erinnert.

Warum hat es so lange gedauert, bis die Künstler sich gegen den seit Monaten bekannten Gesetzentwurf gerührt haben?

Natürlich war das Gesetz von Anfang an schlecht. Aber niemand hat darauf reagiert. Normalerweise fährt die Linke Konterattacken. Aber diesmal gab es ein schändliches Schweigen.

Welche Linke meinen Sie?

Nicht nur die PS, sondern auch die Kommunisten. Bei der ersten parlamentarischen Lesung waren drei Kommunisten und ein einziger Sozialist anwesend. Leute, die normalerweise etwas sagen müßten, habe ihre Arbeit nicht getan. Ich nenne dieses Versäumnis eine Schande, weil gleichzeitig eine konservative Mehrheit Gesetze durchbringen will, die auf Bauernfang bei den Wählern der Front National geht.

Da haben also Künstler die Arbeit von linken Politikern getan?

Ja. Aber nicht nur. Außer den Sozialisten haben uns auch Initiativen wie SOS Racisme enttäuscht. Während der Affäre von Saint Bernard, als afrikanische Immigranten eine Kirche besetzt haben, um Aufenthaltspapiere für Frankreich zu bekommen, haben die einfach geschwiegen. Und der Sozialist Jacques Lang kam in die Kirche und sagte: Ich komme selbstverständlich nicht im Namen der Partei.

All das hat dazu geführt, daß den Leuten der Geduldsfaden riß. Bei den jungen Filmemachern, von denen viele nicht besonders politisiert sind, hat das Schweigen einen richtigen Ekel ausgelöst. Vor allem deshalb, weil man so tut, als sei die Immigration das wichtigste Problem Frankreichs.

Und der Vitrolles-Effekt – die Wahl der Rechtsextremen ins Rathaus der südfranzösischen Stadt?

Ich glaube, das hat eine Rolle gespielt. Aber was erzeugt eine Explosion? Ein kleines Detail, das sie gerade gehört haben? Oder die Akkumulation der Dinge, die sie vorher erlebt haben?

War der Nachhilfeunterricht für die Politiker Ihres Erachtens erfolgreich?

Bei der Debatte im Parlament waren sie alle da. Das Gesetz ist leicht korrigiert worden. Und wenn es am Dienstag in den Senat geht, wird es eine zweite Offensive geben. Außerdem wird sich der Verfassungsrat über zwei Artikel aussprechen müssen, die meines Erachtens verfassungsfeindlich sind. Im ganzen Land wird debattiert. Auch in der Rechten gab es Leute, die aufgewacht sind und gesagt haben, daß bestimmte Artikel in dem Gesetzentwurf verfassungsfeindlich sind.

Aber die Änderung im Gesetzentwurf ist nur geringfügig! Für die betroffenen Immigranten verbessert sich nichts.

Sie haben die Mehrheit im Parlament. Das war alles, was man erwarten konnte. Außerdem gab es eine ganze Reihe von Änderungen in dem Gesetzentwurf.

Das Kollektiv der 59 Filmemacher, das die Protestwelle im Februar anstieß, hat sich in der vergangenen Woche schon wieder aufgelöst. Warum?

Wir wollen nicht die Rolle einer Partei spielen. Deswegen war die Auflösung vernünftig. Aber wir werden uns weiter schlagen. Freudvoll, freundschaftlich und in dem Maß unserer Möglichkeiten. Es wird Filme über das Thema geben. Die Gesellschaft SRF [Sociéte de réalisateurs de films; d. Red.] will einen Film über die „Papierlosen“ drehen – Immigranten ohne Aufenthaltspapiere, die ihren Fall erklären werden. Wir werden uns alle weiter als Citoyens in unseren Filmen engagieren.

Wie sieht Ihr weiteres Engagement aus?

Der französische Integrationsminister hatte mir als Reaktion auf den Aufruf der Filmemacher einen Brief geschickt, in dem er mich aufforderte, in einer Banlieue zu leben. Die Einwohner von Montreuil [im Osten von Paris; d. Red.] haben mich jetzt eingeladen. Ich werde hingehen. Filme zeigen. Diskutieren. Und vielleicht auch drehen. Die Leute waren sehr indigniert über die Vorschläge des Ministers.

Warum haben die Künstler es nicht geschafft, starke Alliierte, beispielsweise in den Gewerkschaften, zu finden?

Es gibt ein Problem in Frankreich. Gegen Ende des Mitterrandismus war die Linke, die Militanten, wie betäubt. Der Lkw-Fahrer- Streik ist eines der Beispiele dafür, daß sie jetzt allmählich wieder aufwacht. Mitterrand hat, vor allem in seiner zweiten Amtsperiode, die linke Vorstellungskraft zerstört. Wir hatten Al Capone an der Macht.

Soll das heißen, daß sie 1998, wenn Frankreich ein neues Parlament wählt, keine linke Regierung wollen?

Nein! Ich kann die rechte Regierung nicht ausstehen. Aber Mitterrand war nie ein Linker. Er hat die Linke verraten. Sie können doch nicht sagen, daß der Mann, der ein Freund von Bousquet [der Polizeichef des Vichy-Regimes; d. Red.] war und im Elysée alle möglichen schändlichen Affären zugedeckt hat, ein Linker war. Er war sehr intelligent, und er hatte herausragende Momente. Aber für die Linken war er eine Katastrophe. Ich bedauere, daß es auch heute keine Persönlichkeit der Linken gibt. Das Schweigen von Lionel Jospin ist bedauerlich. Die Linke ist in ihren Parteiapparaten verfangen. Sie diskutiert, während das Boot brennt.

In den letzten Wochen ist in Frankreich viel die Rede von einem Graben zwischen Volk und Elite. Das wurde auch den Künstlern vorgeworfen.

Das ist für mich der populistischste Reflex in dieser ganzen Debatte. Einfach schändlich! Es gibt Eliten, die vom Volk abgeschnitten sind. Nicht wir! Die sind Leute, die mit enormen Gehältern auf Posten sitzen, obwohl sie so viele falsche Entscheidungen getroffen haben, zum Beispiel an der Spitze der Bahngesellschaft SNCF und der Bank Crédit Lyonnais. Oder denken Sie an die blödsinnige Privatisierung von Thompson. Es ist sehr einfach, den Intellektuellen die Schuld zu geben. In Frankreich hat man auch lange behauptet, die Niederlage von 1940 sei die Schuld von André Gide und dem Filmemacher Marcel Carné, weil er defätistische Filme gedreht habe. Ich glaube, die Niederlage lag an der Blödheit der französischen Generäle.

Während die Künstler gegen den Gesetzentwurf kämpften, stieg im französischen Volk die Zustimmung zu dem Gesetzentwurf. Zumindest nach den Meinungsumfragen.

Ich habe die Schnauze voll von der Politik des Mikrotrottoirs. Die Politiker ersetzen die Politik durch Umfragen. Ich würde gerne wissen, wie viele von den Befragten das Gesetz kennen.

Wenn die Frage anders gestellt worden wäre, hätten die Umfragen möglicherweise das exakte Gegenteil ergeben. Außerdem ist etwas noch lange nicht gerecht, bloß weil 69 Prozent dafür sind. In Deutschland hätte sich 1936 bei einer Umfrage auch die Mehrheit für antisemitische Gesetze ausgesprochen.

Vielleicht gehört die Einsamkeit ja dazu. Vereinzelte französische Intellektuelle warnen schließlich schon lange vor den Rechtsextremen.

Ja. Sie wurden bloß nicht gehört. Auch bei dem Engagement der Intellektuellen für Bosnien ging das Volk nicht unbedingt mit. Aber war der Kampf deswegen unberechtigt? Auch der Kampf gegen den McCarthyismus in den USA, gegen die Hexenjagd auf Kommunisten, wurde jahrelang nicht vom Volk unterstützt. Heute ist das Gegenteil der Fall.

In Deutschland, wo die Immigrationsgesetzgebung nicht liberaler ist als in Frankreich, gibt es keine massiven Reaktionen der Zivilgesellschaft. Woran liegt das?

Ich glaube, die Filmemacher haben ein bißchen die Ehre Frankreichs gerettet. Auch in den USA gibt es ja drakonische Maßnahmen gegen Immigranten – die Abschaffung der Invalidenrente, Arbeitslosenversicherung etc. für alle, die weniger als zehn Jahre im Land sind. In Amerika haben die Intellektuellen ebenfalls geschwiegen. Das wäre in den 70er Jahren anders gewesen.

In Frankreich ist das Kino relativ lebendig, viele Filmemacher sind in Kontakt mit dem Leben draußen. Das zählt. In Italien hat es Reaktionen von Filmemachern gegeben wie die unsere. Sie haben eine Film gedreht, „Intolerance“, eine Serie von Drei-Minuten-Filmen. Auch in Spanien gibt es solche Reaktionen.

In Deutschland ist die Mobilisierung von Intellektuellen ja überhaupt gering – sowohl bei der Auseinandersetzung um Europa als auch bei der Frage der Autorenrechte. Aber es hat doch Reaktionen gegeben, als Türken ermordet wurden.

Interview: Dorothea Hahn