Deutschland ertragen – im Urlaub

Wie soll man für Heimaturlaub werben, wenn die Welt woanders viel bunter ist? Touristen hierher zu locken ist eine Herausforderung. Am Deutschland-Image wird heftig gebastelt  ■ Von Christel Burghoff

Huh – dieser Weichzeichner! Milde taucht er das propere junge Paar in milchiges Licht. Ihr Lachen – beide zeigen Zähne – wirkt unaufdringlich. Der offene Blick gilt einer Frau ihnen gegenüber. Eine Touristin vielleicht. Vor uns liegt die offizielle Werbebroschüre der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT) mit dem einladenden Titel „Willkommen in Deutschland“. Wie eine Bilderbuchlandschaft stellt sich darin unser Land vor: waldig und grün, wasserreich und dunstig, kulturell und gediegen, städtisch und sauber. Voller vertrauter Motive – vom Brandenburger Tor bis zur Wieskirche –, und die Menschen in diesem Land sind gepflegt, vor allem im heimeligen Gegenlicht, bei Kerzenschein und im Dämmer des Weichzeichners.

Die Profiwerber der Agentur Bates in Frankfurt werden sich gedacht haben, daß nur gefühlvolle Stimmungsbilder Gäste in ein Land locken, dessen Bewohner japanische Touristen längst nicht angenehm finden. Jedenfalls behauptete dies der japanische Unternehmensberater Minori Tominaga auf einer Tagung der Thomas Morus Akademie im Bonner Haus der Geschichte und klärte auf: „Japanische Touristen trauen sich hier nicht, ihre Ausflugsbusse zu verlassen. Erst in Italien entspannen sie sich wieder.“ Die Lage ist ernst. Deutschland braucht Touristen.

Im globalen Karussell der touristischen Anbieter wirkt dieses Land abgeschlagen, ausgemustert – festgeklopft auf zirka 24 Millionen Besucher. Wie also, wenn nicht mit Gefühl, soll man für ein Land werben, das die deutschen Touristen selbst nicht lieben?

Es ist traurig, aber wahr: Immer mehr Deutsche folgen den Verlockungen der bunten, weiten Urlaubswelt. Sie lassen sich gehen in karibischen Clubs, sie kaufen sich Frauen und Männer zum persönlichen Genuß, sie entblößen sich an allen Stränden dieser Welt. Massenhaft! 1995 haben sie ein sattes Handelsbilanzdefizit von 50 Milliarden Mark erwirtschaftet. Bloß noch 31 Prozent ihrer Haupturlaubsreisen gehen in die heimischen Lande. Und wenn man sie fragt, was sie von Deutschland halten, dann hagelt es vernichtende Urteile: muffig und langweilig, zu teuer und zu regnerisch und vor allem viel zu bieder.

Wen wundert's? Wenn Deutsche in Deutschland urlauben, dann fahren sie vielleicht in den Harz und steigen zum 16. Mal seit der Wende auf den Brocken. Nicht ohne Grund: „Weil er ein Deutscher und der deutscheste aller Berge ist“, erklärt der gestandene Brockenbesteiger einem Fernsehteam des WDR, das den „Touristen auf den Spuren der Nation“ hinterhergereist ist. „Seit der Wiedervereinigung ist den Deutschen bewußter geworden, daß sie Deutsche sind, aber was das heißt, das wissen sie nicht“, erklärt das Fernsehteam. Sie fahren wieder zu den Denkmälern. „Denkmäler sind die Ausflugsrenner der Nation“, so das Fernsehteam weiter. Und der Kulturgeschichtler Hermann Glaser kommentiert diese Entwicklung: „Der kleine Gartenzwerg befriedigt das idyllische Bedürfnis, die Nationaldenkmäler befriedigen das große Gefühl.“

Deutsche Urlauber im eigenen Land wissen, was sie suchen. Sie finden es am Berg, in der Heide und am Rhein. Sie kennen ihre „mythopoetischen Gnadenorte“, so der Begriff, den der Journalist Georg Seeßlen bei der Erforschung des „Volkstümlichen“ prägte. Wenn man nur seinen Augen traut, dann sieht man den vielen kleinen und großen Gefühlen sogar die maßgeschneiderten Ambientes erwachsen. Toprestaurierte Relikte der Vergangenheit, die einladen, sich hineinzuträumen: in die Bluträusche des Mittelalters, ins Puppige und Beklemmende des Biedermeier, ins Protzgehabe barbarischer Tyrannen, in die märchenhaften Phantasien hypersensibler Königskinder, die man seinerzeit für verrückt erklärt hat. Und wenn diese Szenarien zur Gaudi des Publikums mit Rittergetöse und Festbanketten belebt werden, dann fragt man sich mitunter, wo die Inszenierung aufhört und die Identifikation anfängt.

Die regionale Fremdenverkehrswerbung arbeitet dem zu. Sie zeigt pur, was sie bietet. Ihre touristischen Angebote lichtet sie eins zu eins ab: vom mittelalterlichen Fest bis hin zum Rustikalschick der Gasthäuser: Sie zeigt die Wanderer beim Wandern samt strammer Waden und karierten Hemden, und wenn es um die Demonstration familienfreundlicher Freizeitaktivitäten geht, dann tauchen immer ordentliche Familien beim Radeln auf. Papa vorneweg, dazwischen die zwei obligatorischen Kinder, Mutter bildet – wie im echten Leben – das Schlußlicht. Diese Werbung ist eindeutig. Sie lügt nicht. Doch es kümmert sie offenbar nicht, ob ihre Wahrheit vielleicht abschreckt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Deutschland-Urlaub ist für viele eine Herausforderung. Natürlich gibt es gute Gründe, in Deutschland Urlaub zu machen. Der Freizeitpark Deutschland bietet attraktive Natur noch und nöcher. Man hat sie „erlebbar“ gemacht mit Wanderrouten und Radwegenetzen, die sich nahezu perfekt durch die schöne Landschaft und entlang den Flüssen ziehen. Und erst die Vorgärten der Nation! Es sind bestens gepflegte Naturschutzgebiete, in denen gefährdete Pflanzen und Tiere gehätschelt werden. Natürlich war man zu overprotective: Natur im großen Stil wurde uns in Aussicht gestellt, pur und unbelassen in Nationalparks, doch statt auf Wildnis stoßen wir nun auf Schilder am künstlichen Ökoteich und Lehrpfade im abgezirkelten Biotop. Kein Grund für überschwengliche Begeisterung in der Natur. Rasen betreten – das bleibt verboten.

Unter ökologischen Gesichtspunkten ist Urlaub in Deutschland vor allem eine Frage der Vernunft. Aufgeklärten Ökofreunden sind die Argumente geläufig: Mit einem 13-Stunden-Flug an ein Fernziel belastet jeder die Umwelt genauso wie mit viereinhalb Jahre Autofahren. Die Vorsitzende des Ausschusses für Fremdenverkehr im Bundestag, Halo Saibold, fordert deshalb den „Urlaub der kurzen Wege“. Sie mahnt an: „Angesichts der ökologischen Probleme des Fern- und insbesondere des Flugtourismus müssen wir ein Umdenken bei der Bevölkerung erreichen.“ Doch davor steht das ökonomische Kalkül der Konsumentenmassen wie eine kriegerische Bastion vor ein paar unliebsamen Eindringlingen. Wo karibisches All-inclusive allemal preiswerter als die heimische Ostseeküste ist, da kriegt das Ausland den Zuschlag. Auch Deutsche, die die große weite Welt bevorzugen, wissen, was sie wollen: alle paradiesischen Versprechungen der Tourismusindustrie für möglichst umsonst. Einen Urlaub in Deutschland zu machen komme als „Gedankengang“ nicht mehr in Frage, konstatiert Wolfgang Weiler, Mitglied einer studentischen Projektgruppe, die sich an der Berliner Akademie der Künste mit dem Deutschlandtourismus befaßt.

Vielleicht hilft uns eine Imagekampagne weiter, dachten sich nun einige Verantwortliche vom Verband Deutscher Kur- und Tourismusfachleute und sponsorten eben diese Berliner Projektgruppe. Die wälzte Reiseanalysen und zog eine Schlußfolgerung: „Wenn man mit dem Ist-Zustand wirbt, dann schließt man genau diejenigen Gruppen aus, die man haben will, nämlich junge Leute.“ Die Kampagne, mit der sie das Deutschland-Image entstauben will, wurde eine Überraschung. Man stelle sich vor: Zur Vorweihnachtszeit, wenn H&M die unterirdischen Massen der U-Bahnnutzer mit kessen Beinahe-Nackten auf Erotik und Unterwäsche trimmt, tritt das „ProjektD“ auf den Plan. Auf riesigen Plakatwänden werben satte, farbige Bilder deutscher Expressionisten für den Mut, Deutschland anders zu sehen: „...auf andere Gedanken kommen, mal alles ganz anders machen...“, animieren die Textzeilen. Die nächste, schwarzweiße Runde bestreiten Deutsche in der Natur, etwa beim Sektfrühstück auf dem Hochsitz im Walde. „Sie wollen es exklusiv?“ fragen die Texter und schlagen vor: „Dann folgen Sie einfach Ihren Launen und gönnen sich etwas ganz Besonderes.“ Der Knüller kommt mit Plakatphase 3: Punker-Pärchen propagieren den „Urlaub bei Oma“, nämlich „schrill“. Und dann wird draufgesattelt mit dem Spruch: „Deutschland besser ertragen – im Urlaub.“

Die Projektgruppe will „Deutschland als Gedankengang aktivieren“, so Wolfgang Weiler. Daß die Kampagne Emotionen auslösen kann, zeigte sich schnell an den ambivalenten Reaktionen der Tourismusverantwortlichen von Wirtschaft und Politik. Sie wollten das Projekt realisieren, und sie wollten es doch nicht so recht. Denn daß man Deutschland „ertragen“ soll, wirkt wie pure Provokation. Schließlich kaufte die Deutsche Zentrale für Tourismus die Imagekampagne und ließ sie „einfließen“ in eine neue Marketingkampagne für Deutschland. Doch über „analytische“ Anregungen ging die Bereitschaft zur Integration nicht hinaus, eine 1:1- Umsetzung kam, so die DZT, nicht in Frage. Die Werber der Agentur Bates wissen, warum: Man könne Deutschland nicht „unter Wert“ verkaufen. Sie konzipierten statt dessen den „neuen Blickwinkel“. Und das heißt, viele bunte Deutschlandbilder schmücken die Anzeigen. Ihr Deutschland, das es zu entdecken gilt, ist garantiert frei von jeglichem Schreckmoment. Es ist ein sauberes Produkt. Keine Frage: Same procedure as every year.