Jupp und sein geilet Wämsken

Musical-Standort Ruhrgebiet: Bochum, Essen, Duisburg setzen auf Kultur light. Der kommerzielle Kulturbetrieb brummt. Dabeisein ist alles  ■ Von Günter Ermlich

Monika aus München ahnt noch nichts von ihrem Glück. Just heute abend wird sie eine große Nummer sein: die sechsmillionste Besucherin des Musicals „Starlight Express“ in Bochum an der Ruhr. Boah, ey! Das Rollschuhspektakel von Mr. Musical Andrew Lloyd Webber rollt und rollt seit dem 12. Juni 1988 auf der Erfolgsschiene: acht Vorstellungen die Woche, bei Eintrittspreisen zwischen 80 und 190 Mark, die Halle ist stets zu 100 Prozent ausgelastet, macht 1.700 Besucher pro Show. Wow! Bochum, ein Musical-Metropolis!

Rückblende. Bochum, eine graue Maus. Nicht nur wegen des V(ereins) f(ür) L(eibesübungen). Eine charmefreie Uni, Opel-Werk, das Planetarium und Kaminskis Sternwarte. Ja, gut das reputierliche Stadttheater wurde alljährlich zu den Berliner Theaterfestspielen eingeladen. Und durch Herbert Grönemeyers Bochum-Ballade wurde die inzwischen zechenlose Revierstadt republikweit wenigstens endlich phonetisch korrekt ausgesprochen (langes Ooo!). Doch wo blieb das Attraktive, das Spektakuläre?

„Cats“ sei Dank! Das 1986 erfolgreich gestartete Katzenstück, von der für Cats gegründeten Unternehmensgruppe Stella ins Hamburger Operettenhaus gebracht, war Wegbereiter für Bochums Musical-Abenteuer. Bochums SPD- Stadtobere legten Stella-Unternehmensgründer Fritz Kurz einen roten Teppich aus: Sie ließen für 24 Millionen Mark aus dem Topf der Wirtschaftsförderung (darunter neun Millionen Mark NRW-Landesgelder) eine Halle bauen. Der erste Bau eines Theaters für ein einziges Bühnenstück. Maßgeschneidert für eine professionelle, durchgestylte Technikshow, einen „Multimedia-Mischmasch aus ,Star Wars‘, Superdisco, Sechstagerennen, Rockkonzert und Feuerwerk“ (Die Zeit). Längst vergessen sind die Anlaufschwierigkeiten des ersten Jahres, als der Veranstalter die Preise an der Abendkasse um bis zu 50 Prozent ermäßigen mußte. Vergessen auch die Happenings, als Bochums freie Kulturszenaristen gegen das Kommerzmusical auf die Straße gingen und der lokale Kleinkünstler Willi Tomczyk gar ein Gegenmusical („Übern Jordan“) verfaßte.

„Bochum und ,Starlight‘, das gehört zusammen“, sagt Werner Lerch, Direktor des Bochumer Verkehrsvereins. Das Musical sei das wichtigste Zugpferd für den positiven Trend bei den Besucher- und Übernachtungszahlen gewesen. Von 85.000 Hotelgästen im Jahr 1987 („Starlight“ startete 1988) auf 213.000 im Jahr 1995. Jeder Gast lasse – statistisch errechnet – pro Nacht 200 Mark am Ort. Das bedeute für Bochum einen städtetouristischen Umsatz von über 72 Millionen Mark pro Jahr. Und Wilfried Perner, Leiter des Amts für Veranstaltungswesen, verweist auf die Gelder, die in der Stadt bleiben: „Die Mark für den Taxifahrer und den Friseur.“ Der Bekanntheitsgrad von Bochum sei durch „Starlight Express“ enorm gestiegen, der Imagewinn „ganz erheblich“. Und sogar die städtischen Kosten des Hallenbaus würden über die „Kostenmiete“ des Stella-Unternehmens wieder hereingeholt. Ein „Plusminus-Geschäft“ für die Stadt, versichert Perner.

Bochums gerade ausgestiegene Kulturamtschefin Gaspara Giovannini beklagt hingegen, daß Kultur – „leider muß man ,Starlight Express‘ zum Kulturbereich rechnen“ – immer mehr zur Freizeitindustrie verkomme. Nur solche kulturellen Projekte, die voraussichtlich gut besuchte „Knaller“ werden und strategisch gut fürs Stadtimage sind, würden als wichtige Projekte gehandelt. „Das ist angesichts der finanziellen Notsitution leider so.“ Der Bochumer Kulturetat ist dieses Jahr unter drei Prozent des Haushalts gerutscht.

Kultur light! Der kommerzielle Kulturbetrieb brummt. Die Musicalitis greift um sich in deutschen Landen. Komponist Lloyd Webber hat mit seinen „Opern der Moderne“ das Musical auf dem deutschen Freizeitmarkt salonfähig gemacht. Zur Zeit werden zwölf Musical-Großproduktionen en suite gespielt – ganz zu schweigen von den zig Gesang-Tanz-Spiel-Aufführungen in den subventionierten Stadt- und Staatstheatern. Musical-Marktführer ist die Hamburger Stella AG. Die Musical-Maschine der Firmengruppe, im Alleinbesitz des Stuttgarter Immobilien- und Medienunternehmers Rolf Deyhle, läuft wie geschmiert: Rund 50 Produktions- und Dienstleistungsfirmen mit 4.200 Mitarbeitern sorgten 1996 für einem Umsatz von 400 Millionen Mark (1995: 336 Millionen).

Vor allem das Ruhrgebiet hat sich zum Musical-Standort strukturentwickelt. Der Grund: Ein Einzugsgebiet von 5,5 Millionen Ruhrgebietlern und knapp 18 Millionen Nordrheinern und Westfalen. Nach Bochums „Starlight Express“ folgte Duisburg mit „Les Miserables“ (Januar 96) und Essen mit „Joseph“ (Dezember 96). Drei Musicals – alle von der Stella produziert – an der Autobahnachse A 40, nur 30 Autominuten voneinander entfernt. Der Ruhrschnellweg als heimliche touristische Musical-Straße? Das Revier, „nur riesige, ineinander, aneiandergekoppelte Dörfer“ (Heinrich Böll), als drittgrößte Musical-Region nach New Yorks Broadway und Londons Westend?

Das „Broadway an der Ruhr“ paßt nicht so ganz zum Positionspapier „Phantasie für Reisen im Revier“ (ein „Masterplan Ruhrgebiet“ wird morgen auf der ITB vorgestellt). Darin machen sich Tourismusstrategen aus dem Dunstkreis der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park nämlich für ein „authentisches Entertainment“ stark. Themen für Musicals und Themenparks sollten aus dem großen geschichtlichen und kulturellen Repertoire des Ruhrgebiets enwickelt werden. „Unique Selling Point“ eines authentischen und regionsspezifischen touristischen Profils müsse aber die Industriekultur sein. Daher solle eine „Route der Industriekultur“ mit 20 „Ankerpunkten“ der Industriegschichte und Baukultur etabliert werden. Neben dem Image-Lifting geht es dem Konzept aber besonders darum, in der von der Strukturkrise gebeutelten Region Arbeitsplätze zu schaffen. Mit dem Motto „Kultur macht Arbeit“ warb der Kommunalverband Ruhrgebiet, „Gralshüter der Imagepflege fürs Revier“ (WAZ), jüngst in einer doppelseitigen Anzeige im Spiegel. Allein „Les Miserables“ in Duisburg gebe 400 Mitarbeitern vor und hinter den Kulissen Arbeit. Duisburg, das ist Schimanskis Tatort und der „größte Binnenhafen der Welt“. Aber sonst? Ebbe. „Les Miserables“ (das anspruchsvollste der drei Ruhricals), die Musicalisierung von Victor Hugos Roman der Geknechteten und Armen im Paris des frühen 19. Jahrhunderts, soll für touristischen Aufwind sorgen. Die Anfangsinvestitionen teilten sich die Stadt Duisburg, das Land NRW und die Stella. Sicher, ein gewisses Vabanquespiel für die Revierstadt mit der höchsten Arbeitslosenquote. Aber wer mit dem Rücken sozialökonomisch zur Wand steht, der klammert sich in der harten Standortkonkurrenz der Städte wohl an den Musical- Halm. Da frohlockt die Stadtinformation schon, daß sich die Anfragen von 10.000 auf 20.000 verdoppelt haben.

In Essen können Besucher den Strukturwandel des Ruhrgebiets sinnlich erfahren: zwischen Cinemaxx und Ikea wurde ein denkmalgeschütztes Relikt großindustrieller Vergangenheit zum leichten Musen- und Konsumtempel. In eine 1900 gebaute riesige Backsteinhalle, wo einst 2.000 Malocher tonnenschwere Turbinengehäuse, Kurbelwellen und Lokomotivrahmen für Krupp herstellten und nach dem Krieg die AEG-Kanis Gasturbinen fabrizierte, wurde ein High-Tech-Musical-Theater hineingebaut. Seit Dezember 1996 ist das Colosseum – Heinz-Rühmann- Halle stand auch zur Namensdebatte – Spielstätte für Lloyd Webbers Erstling „Joseph and the amazing technicolor dreamcoat“, im zupackenden Revieridiom „Jupp und sein geilet Wämsken“. Das Colosseum gehört zum Projekt „Weststadt“, der neuen Erlebnisstadt in Essen: „Leben, Erleben und Arbeiten in einem multifunktionalen urbanen Umfeld.“

„Toll, Wahnsinn, geil“. Die Besucher, die das Mega-Foyer des Werkshalle betreten, sind „ganz vonne Socken“. Kein Wunder, denn die Industriekultur ist vom Feinsten: Kranhaken hängen von der Decke, ein eiserner Fahrstuhl wirkt dekorativ, die große Werksuhr ist auf fünf vor zwölf stehengeblieben. Daneben lädt das „Backstage“ – ein Themenrestaurant der Erlebnisgastronomie à la „Planet Hollywood“ – zum Essen und Trinken ins Musical-Dekor mit echtem Hubschrauber („Miss Saigon“), ausladendem Kronleuchter und plüschigen Vorhängen („Phantom der Oper“), Modelleisenbahn über der Bar („Starlight Express“) und hübsch drapierten Schrottplatzinsignien („Cats“). Bei soviel Drumherum wird „Joseph“, eine dröhnend-grelle, alttestamentarische Bibelrevue, fast zur Nebensache. Gott sei Dank braucht man wenig Sitzfleisch. Nach 45 Minuten ist schon Pause. „Mit imposanter Bühnentechnik, faszinierenden Effekten und einer beeindruckenden Ausstattung sorgen wir dafür, daß Sie einen Besuch bei uns nicht so schnell vergessen werden“, feiert die Stella ihre musicalumspannende Firmenphilosphie in der Werbebroschüre. Auf die künstlerische Seite der Produktion kommt es nicht so an.

Der Freizeitmarkt wächst, das Musical-Geschäft feste mit. Auf eine Milliarde Mark Umsatz beziffern Branchenkenner deren jährlichen Gesamtumsatz. Die kleinen Freizeiten, besonders Städtereisen kulturinteressierter, zahlungskräftiger Wochenendurlauber, liegen im Trend, wovon wiederum die Musical-Branche profitiert. Nach dem Hafen und St. Pauli stehen Musicals inzwischen an dritter Stelle der Schaulust von Hamburg- Touristen, ermittelte das Wirtschaftwissenschaftliche Institut für Fremdenverkehr an der Uni München im Auftrag der Hansestadt.

„Motor im deutschen Fremdenverkehr ist unangefochten der Städtetourismus“, bilanziert der Deutsche Fremdenverkehrsverband (DFV) in seiner touristischen Gesamtbilanz 1996. „Städte sind ein multifunktionales Erlebnisumfeld“, sagt die Münchner Freizeitforscherin Felizitas Romeiß-Stracke, „und können am besten auf den Erlebnishunger der Menschen reagieren.“ Der Wunsch vieler Menschen nach Erlebnis und Individualität komme hier zusammen. Ganz groß in Mode sei die „Eventalisierung der Stadt“. Es gibt Mega-Events wie Expos und Olympische Spiele, mittlere Events wie Bundesgartenschauen, große Musikfestivals, Kunstausstellungen und Mini-Events wie, sagen wir, Papstbesuche und Dackelhundeshows. Ohne Event, also ohne marketingmäßig gestütztes bedeutendes Lokalereignis, ist eine Stadt heute arm dran. Die rührigen Hamburger – wer sonst? – haben 1997 zum „Eventjahr“ ausgerufen: die neue Galerie der Gegenwart, 100. Geburtstag von Brahms, Ausstellung zum Untergang der Titanic, 100. Geburtstag des Rathauses...

Erlebnisreisen werden für die breite Masse inszeniert, von den Medien hochgeputscht und zum kulturellen Ereignis, zum Event hochstilisiert. Dieses lockt die Besucher an. Sie kommen busweise und bestens organisiert. Der Event ist Reiseanlaß und kulturelles Highlight zugleich. Aber im Idealfall wird die Busfahrt an sich schon zum Erlebnis. Das beherzigt der Berliner Veranstalter Wörlitz Tourist vorbildlich: Zur dreitägigen Packagetour von Berlin zum Bochumer „Starlight Express“ gehört hinwärts ein kleiner Abstecher zur Rattenfängerstadt Hameln, rückwärts ein Halt im mittelalterlichen Städtchen Soest. Wie aufregend!

Trotzdem sind die Touristenzahlen im Ruhrgebiet noch äußerst mager. Über 80 Prozent sind Businessreisende sowie Tagungs- und Seminarreisende. Und selbst solche No-name-Städte wie Braunschweig und Mannheim überflügeln die Ruhrgebiet-Cities noch in der Touristengunst. Doch Freizeitforscherin Romeiß-Stracke gibt der Industrielandschaft zwischen Duisburg und Hamm mittelfristig gute Chancen im Kurzzeit- und Wochenendtourismus, „wenn es ihr gelingt, das Image zu drehen“. Keine Frage, der Freizeitpark Ruhrgebiet will mit immer neuen Angeboten Kohle machen. Die Freizeitindustrie gedeiht: die Warner Bros. Movie World in Bottrop- Kirchhellen, das Vergnügungs- und Einkaufszentrum „CentrO“ in Oberhausens „Neuer Mitte“, die Bundesgartenschau ab April in Gelsenkirchen, die Musical-Landschaft. Ein weiterer Knüller steht bevor. Jüngst präsentierte André Heller seinen 80-Millionen-Mark- Traum eines „Phantasieparks“, einem „Epizentrum ökologisch betonter Schönheit“, das auf dem brachliegenden ehemaligen Kruppschen Industriegelände in Bochum entstehen soll.

Heute abend wird auch Monika aus München mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus dem Häuschen sein und wie ihre 1.699 Mitseher dem Bochumer „Starlight“-Ensemble stehend Ovationen bereiten. Same procedure as every evening. Hömma, Dortmunder Stadtväter, aufgewacht! Die Borussia allein reicht auf Dauer nicht! Wo bleibt euer städtetouristischer Event, euer Musical-Engagement?

Zur Lektüre: Andreas Luketa: „Broadway an Rhein und Ruhr. Der Musicalführer mit Insidertips“. Verlag Peter Pomp, Bottrop–Essen 1996, 19,80 DM