Euphorie und Angst im Süden

■ Im „befreiten Gebiet“ der Rebellen wird gefeiert: „Das bewaffnete Volk hat die Macht.“ Aber was fängt es mit ihr an?

Acht junge Männer, sonnengebräunt, langhaarig, in Jeans und Uniformjacken, bilden den letzten Posten der Regierungsarmee vor dem von Rebellen besetzten Gebiet um die südalbanische Stadt Vlorä. Sie schwenken ihre Kalaschnikows. Die acht wurden erst vor wenigen Tagen eingezogen. Mit Schüssen in die Luft und wüsten Beschimpfungen der Aufständischen versuchen sie, ihrer Ängste Herr zu werden. „Die drüben hören nicht mehr auf die Polizei, rauchen Haschisch und nehmen Heroin“, sagt ihr Wortführer, „und sie schießen sofort, wenn sie Alkohol getrunken haben.“ Schließlich geben sie den Weg frei.

Nur wenige Kilometer später zeigen gefällte Bäume die erste Verteidigungslinie der Rebellen an. Auch hier werden Kalaschnikows geschwenkt. Ihre Träger sehen den Regierungssoldaten zum Verwechseln ähnlich. Mit dem Siegeszeichen, den zwei gespreizten Fingern, werden wir weitergelotst. Wir sind im „befreiten Gebiet“. Die Straße schlängelt sich durch ein fruchtbares Tal. Bauern arbeiten auf den Feldern, Kirschbäume blühen.

Auf dem Marktplatz des Städtchens Tepelena wird geschossen. Ein kleines Begrüßungsritual für die Fremden. „Nieder mit Berisha, das bewaffnete Volk hat die Macht“, rufen einige Heißsporne. Einige Zeit nach uns sind Kameraleute angekommen. Sie wollen die Szene nachstellen, fordern Leute auf, Freudenschüsse abzugeben. Einem Mann rutscht die Waffe ab, ein Schuß tötet einen 16jährigen Jungen, wie erst später bekannt wird.

Mitten auf dem Platz steht ein Geschütz. Viele Einwohner haben sich in den letzten Tagen mit Waffen versorgt. Angst vor den Regierungssoldaten hätten sie nicht, auch nicht vor den Maschinen der albanischen Luftwaffe. „Greifen sie uns an, verteidigen wir uns“, sagen sie. Und sie lachen, als sie hören, was die andere Seite von ihnen hält. „Wir nehmen weder Heroin noch sind wir Kommunisten. Berisha ist der größte Drogenhändler hier im Lande. Und ein Kommunist dazu.“

Ein älterer Mann aber bedeutet uns vorsichtig: Ja, er habe Angst. Jede Nacht schössen betrunkene Jugendliche wild um sich: „Meine Familie und ich schließen uns ein und machen nachts kein Auge zu.“ Die Polizei habe nichts mehr zu sagen, die „Gebildeten“ hätten keine von der Armee erbeutete Waffen erhalten. „Die Kämpfer machen, was sie wollen. Das ist die reinste Anarchie.“ Als sich ein Junge mit einem Schnellfeuergewehr nähert, verschwindet der Mann im nächsten Hauseingang.

„Ja, die Staatsmacht gibt es nicht mehr. Hier herrscht jetzt das Volk.“ Der knapp 30jährige Ismet lädt ins Café ein. Ismet hat zwei Jahre lang als Asylbewerber im bayrischen Passau gelebt und ist vor kurzem zurückgekehrt. Für die Leute hier sei der Zusammenbruch der Spekulantenfirmen und Berishas Wahlbetrug die Flamme an der Lunte gewesen. „Wir wollen endlich unsere Freiheit. Berisha ist ein Diktator wie Hitler. Das albanische Volk will leben wie andere Völker Europas auch, wir wollen nicht am Rand, wir wollen Teil Europas sein.“

Die Jugendlichen genießen die wilden Tage. Sie ziehen lachend durch die Straßen, jagen mit Autos von einem Dorf zum anderen, wachen an Kontrollstellen, gehen in die Berge, um die Bewegungen des „Feindes“ zu beobachten. Anders als die gleichaltrigen Soldaten auf der anderen Seite haben sie keine Angst und keinen Respekt vor irgendeiner Autorität.

„Wir haben die Macht abgeschafft“, meint ein Lehrer im Café, „jedoch keine eigene Macht gebildet.“ Auch die Oppositionsparteien spielen hier keine Rolle. „Wer aber soll mit der Regierung, wer soll mit internationalen Beobachtern verhandeln?“

Auf dem Rückweg sind die Regierungssoldaten verschwunden. Gerade eben erst hat Berisha den 48stündigen Waffenstillstand ausgerufen. Erich Rathfelder, Tepelena