„So ein Übergriff steckt an“

■ Der Polizeikenner Joachim Kersten über Strategien im Umgang mit Brutalität von Polizisten bei Großeinsätzen

taz: Gibt es bei der Polizei eine Entwicklung zu mehr Zivilität?

Joachim Kersten: Wenn man die Einsätze in den sechziger Jahren mit heute vergleicht, muß man sagen, daß ein Weg hin zu einem zivilisierteren Verhalten der Polizei wirksam geworden ist.

Nun kam es aber im Rahmen der Proteste gegen den Castor- Transport zu massiven Übergriffen der Polizei. Wären diese zu verhindern gewesen, wenn es im Interesse der Einsatzleitung gelegen hätte?

Grundsätzlich ja. Es ist eine Frage der Dauer solcher Einsätze und der Zahl des eingesetzten Personals. Das war ein Großeinsatz und nicht polizeilicher Alltag, eine besondere Situation, in der es bei Streß eskaliert. Wenn die Führung von vornherein die Absicht hat, es nicht eskalieren zu lassen, dann muß man Einsatzkräfte fortwährend betreuen. Prinzipiell ist das möglich. Die Frage ist, ob das gewollt wird. Hinzu kommt bei solchen Großeinsätzen, daß dort in der Mehrheit keine erfahrenen Polizisten sind, die viel Bürgerkontakt oder Erfahrung mit solchen Situationen haben. Die sind sehr aufgeregt. Für manche war es auch das erstemal, daß sie im Wendland als sogenannte Prügelknaben und -mädchen etwas zu verteidigen hatten, hinter dem sie unter Umständen gar nicht standen.

Welchen Stellenwert haben sogenannte Schlägertrupps innerhalb der Einsatzkräfte?

Es gab sicher zu früheren Zeiten solche Schlägertrupps. Um die Frage der Übergriffe zu beantworten, ist es interessanter, Studien anzugucken, in denen Übergriffe, Brutalität und Kriminalität unmittelbar im Zusammenhang mit der Polizei erforscht worden sind. Eine gute Forschung dazu gibt es – so wenig die Analogie auch paßt – zu den Reservebataillonen von Polizisten, die bei der Besetzung Polens eingesetzt wurden und Erschießungskommandos durchgeführt haben.

Die Studien zeigen: Je weiter der einzelne gefühlsmäßig von demjenigen entfernt ist, demgegenüber er Gewalt anwendet, desto eher übt er Gewalt aus, wenn diese durch die Führung legitimiert wird. Obwohl dies Extremfälle sind und mit unserer Polizei nichts zu tun haben, sollte man diese Forschung ernst nehmen.

Gut. Es kommt also zu ersten Übergriffen auf Demonstranten. Welche psychologische Wirkung haben diese auf die nachfolgenden Ereignisse?

Wenn so ein Übergriff nicht sanktioniert wird, steckt er an. Es kommt bei den Beamten so an, als sei dies erlaubt. Das hat eine infektiöse Wirkung und kommt einem Dammbruch gleich.

Sind Ihnen Fälle sofortiger Sanktionierung polizeilicher Übergriffe bei Großeinsätzen bekannt?

Mir sind die Sanktionen bei Übergriffen gegenüber einzelnen Personen bekannt, allerdings keine bei Großeinsätzen. Zumindest sind diese nicht öffentlich geworden. Was man allerdings weiß, ist, daß Großeinsätze wie in Wackersdorf bei jungen Polizisten Identitätskrisen nach sich ziehen können. Sie werden moralisch und ethisch an Grenzbereiche geführt, müssen Verhaltensweisen mittragen, die sie eigentlich nicht mehr vertreten können, da sie gegen Grundsätze verstoßen, die ihnen während der Ausbildung beigebracht werden.

Wie ließe sich eine Rambo- Zambo-Mentalität, tritt sie nun innerhalb der Polizei auf, deeskalieren?

Da müßten entsprechende Verantwortliche vor Ort sein, die die Erfahrung und den persönlichen Mut haben, das anzusprechen.

Kennen Sie Fälle, in denen eine Einsatzleitung mit gezielter Desinformationspolitik den Aggressionspegel bewußt erhöht hat?

Man kennt aus der Forschung in Frankreich, daß dort bewußt Strategien eingesetzt wurden, um die Polizisten heiß zu machen. Man streute Gerüchte von verletzten oder getöteten Kollegen, um so Legitimationen auszuteilen und zu sagen, jetzt könnt ihr zuschlagen. Die Demonstration vom 2. Juli 1967 ist auch so ein Beispiel. Damals wurde das Gerücht gestreut, ein Polizist sei getötet worden. Getötet wurde allerdings Benno Ohnesorg. Im einzelnen kann man das allerdings schwer nachvollziehen, weil diese Gerüchte nicht in schriftlicher Form vorliegen. Interview: Eberhard Seidel-Pielen

Joachim Kersten (49) ist Soziologieprofessor an der Hochschule für Polizei in Baden-Württemberg