„Operation Black Vote“

Die Hälfte von Großbritanniens farbiger Bevölkerung geht nicht zur Wahl. Dabei könnte deren Stimme die nächste Unterhauswahl entscheiden  ■ Aus Leicester Frank Drescher

Mit nur sieben Stimmen Vorsprung haben die Tories den Sitz geholt“, ärgert sich ein Zuhörer. „Sieben Stimmen! Und jeder von uns hier im Saal kann mühelos sieben Schwarze nennen, die nicht gewählt haben.“ „Question Time“ lautet das Motto des Abends im Afro-Caribbean Centre der mittelenglischen Großstadt Leicester. 250.000 Menschen leben hier, davon ein Viertel „Black People“, also Menschen afrikanischer, indischer oder afro-karibischer Herkunft. Landauf, landab organisiert die von Bürgerrechtsorganisationen und Gewerkschaften getragene Initiative „Operation Black Vote“ (OBV) in Wahlkreisen mit hohem schwarzen Bevölkerungsanteil derzeit sogenannte „Question Time Meetings“. Das sind Podiumsdiskussionen, zu denen in der Regel der Unterhausabgeordnete des Wahlkreises und die Kandidaten der Parteien eingeladen und nach ihrem Engagement für die Black Community, die schwarze Gemeinde, befragt werden. Und die nehmen das durchaus ernst.

Obwohl die Labour-Fraktion neulich wegen einer Kampfabstimmung im britischen Unterhaus alle Abgeordneten zur Anwesenheit vergattert hatte, gab sie einem Abgeordneten für „Question Time“ extra frei, erzählt Simon Woolley stolz. Der 36jährige arbeitet für die Bürgerrechtsorganisation Charter 88 und koordiniert die Kampagnen von einer Fabriketage in Finsbury, Central London. Computerventilatoren surren, aus Faxmaschinen quellen endlose Papierrollen, und ständig klingelt irgendein Telefon. Im Konferenzraum verfolgen Mitarbeiter gespannt das Frauenmagazin auf BBC Radio 4, wo heute zwei OBV-Vertreter als Studiogäste auftreten. Sie haben ihre Sache gut gemacht, ist man sich nach der Sendung einig, dann eilen alle wieder an ihre Schreibtische. An den Pinnwänden hängen Plakate der jüngsten PR-Kampagne. Die zeigen unter John Majors Konterfei die Telefonnummer seines Wahlkreisbüros. Der Text dazu lautet: „Stellen Sie sich vor, eine Million Schwarze rufen heute John an. Was meinen Sie, wie entzückt der Brixton Boy sein wird, mit allen von uns zu sprechen. Operation Black Vote: Let Them Know You Exist.“ (Laßt Sie wissen, daß wir existieren). Variationen dieses Motivs gibt es mit Labour-Chef Tony Blair und Paddy Ashdown, dem Vorsitzenden der Liberaldemokratischen Partei. Wie sich später herausstellt, ist das Echo der Kampagne bisher bescheiden: „Keine Reaktionen“, heißt es bei den Liberaldemokraten, und John Majors Bürochefin will sich mit „zwei Gentlemen sehr nett unterhalten“ haben, wobei es aber nicht so sehr um Politik gegangen sei. In Tony Blairs Büro hätte es immerhin ein Dutzend Anrufe gegeben. „Wir haben uns etwas über Labours Minderheitenpolitik unterhalten, und ich habe ihnen dann ein paar Broschüren geschickt“, sagt der Büroleiter.

Simon Woolley wurde im Arbeitermilieu von Leicester geboren. Mit rassistischer Diskriminierung ist er seit seiner Kindheit vertraut. „Die weißen Kinder sangen damals Lieder wie ,Schickt die Wogs (Schimpfwort für Schwarze, Red.) nach Vietnam‘, und ich fragte meine Mutter: Warum wollen die uns nach Vietnam schicken? Ich wußte ja nicht, daß dort Krieg war.“ Da war er zehn Jahre alt. Einige Jahre später, er war gerade auf dem Weg zum Waschsalon, verhaftete ihn eine Polizeistreife wegen Einbruchs, und das kam so: „Ich kam mit dem Wäschesack aus dem Haus, und der Polizist fragte mich, ob ich ein Einbrecher sei, und ich sagte, nein, ich wohne hier, das ist mein Haus, hier sind meine Schlüssel. Darauf verlangte der Polizist einen Ausweis. Ich sagte, ja, ich hole ihn aus dem Haus. Der Polizist folgte mir. Ich fragte ihn: Wo wollen sie hin? Er: Ich komme mit. Und ich: Nein, sie warten draußen, das ist mein Haus. Daraufhin nahm er mich fest.“ Und wenn Simon Woolley von einer Reise zurückkehrt, kommt es schon mal vor, daß ihn am Flughafen ein Zollbeamter diskret auf die Schulter tippt und ihn trotz britischem Paß und Anzug mit Hemd und Krawatte in einen separaten Raum zur Abfertigung lotst.

Als Student kam er zu Charter 88, einer Bürgerrechtsorganisation, die unter anderem für eine geschriebene Verfassung kämpft.

Die Idee zu „Operation Black Vote“ entstand im Sommer 1995. Als damals der Schwarze Brian Douglas unter ungeklärten Umständen im Polizeigewahrsam starb, kam es im Londoner Stadtteil Brixton zu schweren Krawallen. „Die Frustration in der Black Community ist groß, aber durch die Krawalle ändert sich nichts. Deshalb wollen wir versuchen, das politische System zu beeinflussen. Wir werden die Politiker nicht bitten, uns zuzuhören, sondern zwingen sie.“ Simon Woolley rechnet vor, warum das klappen könnte: Bei der letzten Unterhauswahl erreichte die Konservative Partei eine hauchdünne absolute Mehrheit von zehn Sitzen. Jüngste Umfragen taxieren Labour zwar auf 52 Prozent der abgegebenen Stimmen, was aber wegen des britischen Mehrheitswahlrechts nicht heißen muß, daß Labour auch die Mehrheit der Sitze im Parlament erreicht. Von wahlentscheidender Bedeutung könnten daher rund 50 sogenannte „marginal seats“ sein, die OBV ausfindig gemacht hat. Dabei handelt es sich um verarmte oder von der Verarmung bedrohte Gegenden, bei denen die Anzahl schwarzer Nichtwähler die Stimmenmehrheit des gegenwärtigen Abgeordneten übertrifft. „Die Leute halten sich bewußt heraus, sie sagen sich: Was kümmert mich ein System, das gegen uns arbeitet. Schuld an der Misere seien alle großen Parteien gleichermaßen, weshalb OBV überparteilich ist.

In Leicester wird heute abend über die Mobilisierung der schwarzen Jungwähler diskutiert, von denen 80 Prozent angeblich nicht wählen wollen. Dazu paßt, daß sich im ohnehin nicht sehr zahlreichen Publikum kaum jemand unter 30 befindet. Auch auf dem Podium sitzen fast ausschließlich Angehörige einer Generation, die ihre politische Sozialisation durch Martin Luther King und Malcolm X erfahren hat. Manche reden sich noch als „Brothers“ und „Sisters“ an. Viele von ihnen arbeiten im Bildungswesen oder in der Kommunalverwaltung und sind darüber hinaus noch politisch aktiv. Unpolitisch sei die Jugend keineswegs, das zeige ja ihr Interesse für Spike- Lee-Filme oder Bands wie Public Enemy, meint einer. Die Schulen seien mitschuldig, weil zuwenig politische Bildung stattfinde. Kaum jemand wisse, wie das System funktioniere, sagt eine andere. Weitere Allgemeinplätze werden ausgetauscht. Konkrete Ergebnisse bringt der Abend nicht. Aber man ist froh, sich überhaupt getroffen zu haben.

Nach fast zwei Jahrzehnten an der Macht zeigt die konservative Regierung deutliche Verfallserscheinungen, ein Machtwechsel scheint zum Greifen nah. Vielleicht ist das der Grund für den spürbaren Optimismus der schwarzen Mittelschicht und ihrer politischen Exponenten.

Für Simon Woolley steht indes mehr auf dem Spiel als nur der Ausgang der kommenden Wahl: Gerechtigkeit für Großbritanniens schwarze Bevölkerung. Große Worte. Doch wie beispielsweise sollen subtilere Formen des Rassismus wie die unverhältnismäßig hohe Arbeitslosigkeit der Schwarzen bekämpft werden? „Zum Beispiel, indem man den vorhandenen Antidiskriminierungsgesetzen mehr Wirksamkeit verschafft. Das ist wie eine politische Kopfnuß, mit der man die Gedanken der Menschen verändert, und zwar so, daß sie die Black Community als gleichrangig akzeptieren.“ Was auch Reformen im Bildungswesen bedeuten würde: „Kolonialismus und Sklaverei werden immer noch als goldenes Zeitalter britischer Geschichte betrachtet. Weiße Lehrer nehmen einen schwarzen Schüler meist als Problemfall wahr. Dabei sind die Schulen mit den besten Ergebnissen im British Commonwealth ironischerweise auf Jamaica und Barbados“, sagt Woolley.

Nicht zuletzt auf der Agenda steht Europa: „Wenn darüber geredet wird, wollen wir mit am Tisch sitzen. Welchen Nutzen hat ein größeres Europa für uns, wenn in manchen Ländern rassistische Parteien Wahlergebnisse von 25 Prozent erreichen? Wenn Europa uns aber miteinbezieht, wenn es einen Grundrechtskatalog gibt und eine Verfassung, die auch unsere Rechte schützt – in Ordnung.“

Rund sechs Prozent der britischen Bevölkerung sind Nichtweiße, trotzdem sind sie kaum in den Spitzen von öffentlichem Dienst und Justiz vertreten. Im Parlament stellen sie von 651 Abgeordneten gerade mal sechs. Zwar haben die drei großen Parteien rund 30 schwarze Kandidaten zur Unterhauswahl aufgestellt, aber, meint Simon Woolley, „die meisten von ihnen treten in aussichtslosen Wahlkreisen an.“