■ Der Castor-Polizeieinsatz zeigt eine veränderte Republik
: Den Widerstand „abferkeln“

Der Einsatz von 30.000 Polizisten während des Castor-Transports gilt als der größte in der Geschichte der Republik. Aber trotz des Aufwands an Menschen und Material kam es wieder zu heftigen Polizeiübergriffen – wie so häufig in der Geschichte der Anti- AKW-Proteste. Erneut wurde bereits im Vorfeld und erst recht danach das Stereotyp der „vermummten reisenden Chaoten“ zur Rechtfertigung der Knüppeleinsätze bemüht. Also, alles wie gewohnt? Nicht ganz, denn ein Blick zurück zeigt deutlich, wie sich inzwischen die Maßstäbe verschoben haben.

Vor über 20 Jahren, am 30. Oktober 1975, stehen den 7.000 DemonstrantInnen am Bauplatz des AKW Brokdorf etwa 500 Polizisten gegenüber. Wenige Wochen später, am 13. November, versammeln sich in Brokdorf bereits 30.000 DemonstrantInnen und 3.000 Polizisten. Im März 1977 werden am Bauplatz des AKW Grohnde 5.000 Polizisten gegen 20.000 AtomkraftgegnerInnen aufgeboten. Mit diesen drei Ereignissen hat in der Bundesrepublik das bis heute nachwirkende Trauma um „die gewaltsame Auseinandersetzung um die Kernkraft“ begonnen. Und tatsächlich wurden die Auseinandersetzungen in den Folgejahren auf beiden Seiten mit seltener Härte geführt.

20 Jahre später kommt in Gorleben auf einen prostestierenden Bürger bereits ein Uniformierter. Noch etwas hat sich im Laufe der Jahrzehnte geändert. Anders als in Brokdorf, Grohnde und anderswo lieferten sich im Umfeld des Castor-Transports nur kleine, marginalisierte Grüppchen Scharmützel mit der Polizei. Trotzdem war die Polizei unfähig, die Deeskalierungsstrategie bis zum Schluß durchzuhalten. Und so drängt sich der Schluß auf, daß sich in all den Jahren wenig an der kontinuierlichen Aufrüstung gegen die BürgerInnen und das „Abferkeln“ (BGS-Jargon) von Widerstand geändert hat.

Viel hat sich allerdings in der Wahrnehmung aller Beteiligten geändert. Die einen nehmen ein paar Dutzend „Chaoten“ zum Anlaß, um die alten Bilder heftiger Konfrontationen zu reaktivieren. Die anderen adeln den jüngsten Polizeieinsatz als den größten der Nachkriegsgeschichte. Dieses zweifelhafte Privileg gebührt allerdings nach wie vor dem sogenanntem Kalkareinsatz. Von den rund 60.000 DemonstrantInnen erreichte nur ein Bruchteil sein Ziel. Die übrigen blieben in zahllosen Polizeisperren stecken. Zumindest das war diesmal anders. Otto Diederichs

Diederichs lebt als freier Journalist in Berlin