Der Körper merkt sich's

■ Gesundheitsreform: Auch Schmerztherapeuten müssen jetzt PatientInnen wegschicken

Migräne, Gesichtsneuralgie, Rheuma oder, als neue Diagnose, die „Schmerzkrankheit“mit massiven Schmerzen ohne organischen Befund: Fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung der alten Bundesländer plagen solche Krankheiten mit chronischen Schmerzen. Der Verband Deutscher Ärzte für Schmerztherapie schätzt, daß sich jährlich 2.000 bis 3.000 Schmerzpatienten das Leben nehmen. Selten finden Schmerzpatienten wirkliche Hilfe; die Regel ist, daß sie Linderung bei diversen Ärzten und Heilern suchen, um den Schmerz am Ende doch nur mit massiv wirkenden Tabletten aushalten zu können. Umso verdienstvoller, daß sich zunehmend spezielle „Schmerztherapeuten“um diese Patienten kümmern. Umso bitterer, daß gerade sie die Seehofersche Gesundheitsreform trifft: Schmerztherapie durch einschlägig ausgebildete Psychologen wird nicht mehr von der Krankenkasse erstattet. „Schmerzpatienten, die nicht privat bezahlen können, werden in Bremen nicht mehr versorgt,“so dramatisch beschreibt der Bremer Schmerztherapeut Christof Kohrs die Lage.

In seinem Therapieraum fließen derzeit vielleicht noch etwas mehr Tränen als sonst. Sechs Päckchen Tempotücher liegen bereit. An der Wand steht ein großes schwarzes Ledersofa. Hierher kommen die Leute, wenn sie einen Schmerz nicht mehr aushalten können. Oder wollen. Wer die Symptome kennt, kann Schmerzpatienten manchmal schon am Äußeren erkennen: Ihre Haut ist zerknittert, blaß, sie schwitzen, sind unruhig, schlafen schlecht. Typische Streßsymptome eigentlich. Die Anamnese dauert 50 Minuten (und kostet 100 Mark; die wurden bisher, wenn Therapiebedürftigkeit vorlag, von der Kasse erstattet).

Das Problem beim Schmerz ist, daß er ein äußerst subjektives Erlebnis ist; es gibt kein Schmerzmeßgerät, der gleiche Schmerz kann höchst unterschiedlich bewertet werden. Schmerzempfinden ist kulturell bestimmt; Christof Kohrs weiß aus Erzählungen, daß in Afrika Männer mit schlimmsten Verletzungen geduldig und ohne eine Miene zu verziehen, auf ihre Behandlung warteten. Das Schmerzempfinden kann von einem durchtrennten Nerv herrühren, aber auch durch Sorgen und Depressionen verstärkt sein. Der Körper kennt darüber hinaus ein „Schmerzgedächtnis“(jeder kennt das: Erinnert man sich an die letzten schlimmen Zahnschmerzen, zieht es tatsächlich). Eine Bandscheibenoperation kann technisch hervorragend gelungen sein – und doch treten die Rückenschmerzen manchmal plötzlich wieder auf.

Ein Schmerz kann aber auch die späte Reaktion auf ein schreckliches Erlebnis in der Kindheit sein, eine Migräne Ergebnis sexueller Mißbrauchserlebnisse, eine schmerzhaft verspannte Schulter ein Hinweis auf den prügelnden Vater. Und alte Schmerzbiografien sind oft ein fast undurchschaubares Knäuel von objektivem Leid und parallelem sogenannten „Schmerzprofit“– d.h. der Ischias wird benutzt, um Zuwendung zu erzwingen etc. Sich in diesem Schmerzwirrwarr zurechtzufinden und gezielte Therapien zu entwickeln, bemüht sich der Schmerztherapeut.

Wer jedoch heute zu Christof Kohrs kommt und kein Geld hat, wird weggeschickt. Und zwar zum psychotherapeutischen Allgemeinarzt. „Es gibt keine freie Behand-lerauswahl mehr,“klagt Kohrs wie viele KollegInnen in der Psychotherapie. Allgemeinärzte sind lediglich tiefenpsychologisch und verhaltenstherapeutisch ausgebildet. Kohrs wendet darüber hinaus sogenannte „multimodale“Verfahren an. Dazu gehören Muskelentspannungsübungen, autogenes Training, imaginäre „Phantasiereisen“, die den völlig vom Schmerz gefangengenommenen Patienten in die Lage versetzen, wieder einmal Erfreuliches zu erleben, auch an seinem peinigenden Körper.

Ziel ist immer, daß der Patient sich selbst wieder als handlungsfähig erlebt. In der Regel wird er mit dem Schmerz bis an sein Lebensende zurechtkommen müssen. Er muß ihm aber nicht ausgeliefert sein. Zurechtkommen heißt: zum Beispiel am Arbeitsplatz eine Liege fordern; Bildschirmarbeit einschränken; eine neue Rolle in der Familie finden, in der Partnerschaft. Das braucht Mut und Selbstbewußtsein, beides fehlt Schmerzpatienten oft in besonderem Maße. Die interdisziplinäre Arbeit eines Psychologen kann dabei hilfreich sein. Doch zunächst sieht es für die schmerztherapeutischen Psychologen (in Bremen gibt es gerade zwei) finster aus. Das erscheint umso absurder, wenn stimmt, was Christof Kohrs befürchtet: „Die chronischen Schmerzpatienten werden zur größten Patientengruppe überhaupt.“ BuS

Christof Kohrs ist auch Geschäftsführer der „Deutschen Schmerzhilfe Bremen“, die ein „Schmerzbewältigungstraining“anbietet (Tel. 55 99 307)