Das Jahrzehnt der Schlaghosen

Die Stücke des Dezenniums mit der Gegenwartsmusik konfrontieren – Weiße-Tasten-Minimalismus, viel Gesprochenes, nachgeahmte Fischgeräusche: Altes und Neues aus West und Ost bei der 16. Musik-Biennale in Berlin  ■ Von Frank Hilberg

Die Zeit verrinnt, doch kein Orchestermusiker erscheint, um seinen Platz einzunehmen. Die Bühne bleibt leer, und erst, als sich das Licht verdunkelt, tritt ein Trompeter – Reinhold Friedrich – auf und hebt zu spielen an. Ein Solostück? Nein, denn seinen vielfach wiederholten Tönen antwortet nicht etwa ein Echo, sondern das Orchester, das, wie man jetzt erfährt, draußen vor der Türe weilt – ein neuer und verblüffender Versuchsaufbau. Die Hörer sind in Platons Höhlengleichnis versetzt, denn von den Instrumenten haben wir nur farbige Schatten, und welche es sind, müssen wir neu erraten. Ohne die akustische Entrückung allerdings wäre das „Trumpet Concerto“ von Benedict Mason nur ein Beispiel für schlichten Weiße-Tasten-Minimalismus, wobei Mason den Rückgriff auf Diatonik für einen Schritt zu den akustischen Phänomenen selber hält.

„Die Harmonik ist so neutral wie möglich“, behauptet er und übersieht, daß die C-Dur-Tonleiter das wohl belastetste und abgegriffenste Tonmaterial überhaupt ist. Die Musik-Biennale Berlin, deren Eröffnungskonzert Masons Uraufführung enthielt, verfolgt seit drei Jahrgängen das Konzept, die Stücke eines Dezenniums mit der Gegenwartsmusik zu konfrontieren. Nach den 50er und 60er Jahren sind nun folgerichtig die 70er Jahre an der Reihe. Beabsichtigt ist dabei von der Programmchefin Heike Hoffmann weniger eine Retrospektive als ein Überblick, denn die Biennale hat ihre Wurzeln in der DDR und unterlag während der vierzigjährigen Trennung einem ähnlichen Informationsdefizit wie alle westdeutschen Festivals auch. Die nach der Wiedervereinigung noch weiterbestehende Verständigungskluft von Ost- und Westhörern zu überbrücken, hat sich das „internationale Fest für zeitgenössische Musik“ mit fast 30 Konzerten zwischen dem 7. und 16. März vorgenommen.

Georges Aperghis' Stück „commentaires“ ist ein einziges Reden, was für „Musiktheater“ einigermaßen prekär ist. Es beginnt in völliger Dunkelheit als Hörspiel mit einem schier endlosen Textschwall vom Tonband. Wenn das Dunkel sich lichtet, zeigt der karge Bühnenaufbau eine Staffelung von Podien, die als Schauplätze des Sprechens, Stammelns, Wortewürgens genutzt werden. Sprachbehandlung, Sprachfindung und -hervorbringung waren die großen Themen der 60er Jahre. Sprache und Sprechen wurden zergliedert und aus den Schnipseln neu zusammengesetzt und trugen in der Sinnlosigkeit ihrer entstellten Worte und Silben die abgestreifte Bedeutung noch mit. Aperghis' Worthunger ist immens, und er verdaut eine riesige Textmenge. Seine Mahlzeit ist aus Leibniz, Céline bis Castaneda, hauptsächlich aber von Philippe Minyana, Albert Ostermaier und eigener Protoliteratur in Pseudosprache zusammengestellt. Aperghis setzt am Sprechakt an und führt in einer langen Reihe kurzer Situationen den Tonfall verschiedener Kommunikationsformen vor: das Fürsichsprechen, Aneinandervorbeireden, Losbrüllen, Abrattern ... Aber, als wäre die bedeutungsschwere Textlast anders nicht zu ertragen, ist das Pathos des Sprechens fast ausschließlich ins Groteske gewendet. Und wenn die Schauspieler und Musiker des ATEM – ThéÛtre Nanterre-Amandiers – in flüssiger Choreographie und manchem überraschenden Einfall auch innige Momente aufblitzen lassen, liegt ihnen die Ausgelassenheit eines Kindergeburtstages doch am besten.

Die Musik kommt zu kurz. Obwohl mehrere Instrumente vorhanden sind – Klavier, Bratsche, Cello, Percussion –, beschränkt sich ihr Einsatz auf stumpfes Mitdeklamieren im Rezitativstil und gerät damit zur Verdoppelung. Oder sie intonieren kurze, belanglose Zwischenspiele, die vom nächsten Wortschwall abgebrochen werden. Vielleicht wäre ein vollständiger Verzicht das Beste gewesen, denn dann hätte sich das Problem gelöst, daß eine rezitierende Cellistin immer wirkt wie eine rezitierende Cellistin.

Was eigentlich ist das Pendant zu Plateausohlen und Glockenhosenschlag in der ersten Musik der 70er? Die unorthodoxe Haltung gegenüber den Gepflogenheiten des Musikmachens. Sie ist eine Spezialität insbesondere von Vinko Globokar. Sein einstündiges „Concerto grosso“ von 1975 entfaltet sich aus einem scheinbaren Durcheinander von Instrumentalisten, Choristen, Geräten und Objekten. Das Wimmeln und Weben knarzender, knerpelnder und knurrender Klänge evoziert ein akustisches Biotop, eine Klanglandschaft, die in ständiger Veränderung begriffen ist. Klanglich apart ist die Idee, einem Teil der Choristen per Kopfhörer die Signalgeräusche von Fischen und Insekten vorzuspielen und nachahmen zu lassen. Darin klingt es passagenweise wie eine naturalistische Fassung von Haydns „Schöpfung“.

Musik aus dem Geist der Spontaneität will gut organisiert sein, wenn es nicht zum Brei einander übertönender Musiker geraten soll. Das freie Spiel bleibt fünf Solisten vorbehalten, die die prekäre Balance aus Selbstentfesselung und Selbstkontrolle – Grundlage aller Improvisation – verinnerlicht haben. Sie fungieren auch als Subdirigenten ihnen zugeordneter Instrumentalensembles. Der Dirigent Diego Masson übernimmt mal die Rolle eines Verkehrspolizisten, mal tritt er als Spieler eines Metaklavieres auf, der, wenn er seine Fäuste herabfahren läßt, ein Dutzend Instrumente aufbrüllen läßt. Stets aber läßt das an Ideen und Klängen reiche Gefüge aus Regeln, Vorschriften und Anregungen genügend Raum zur Entfaltung musikalischer Situationen. Das Stück wirkt auf unprätentiöse Weise vital und ganz und gar nicht angestaubt oder, wie so manch andere konzeptionelle Hirngeburt, steril. Diese Kunst steigt und fällt mit dem Niveau der Kompetenz und Ernsthaftigkeit der Ausführenden. Und da ließen weder das Ensemble Modern noch der Rias- Kammerchor, noch die Maulwerker und erst recht die fünf Solisten etwas zu wünschen übrig.