■ Wer im Gesundheitswesen sparen will, darf nicht nur auf Konkurrenz setzen. Denn das ist unsozial – und teuer
: Die marktwirtschaftliche Illusion

„Wir Schwaben sind ein robustes Volk. Mehr als den Tod fürchten wir die Krankheitskosten.“ Dieses Bonmot des Stuttgarter Oberbürgermeisters Rommel ist heute harte Realität der Seehoferschen Reformen. Gesundheitspolitik ist zur reinen Finanzpolitik geschrumpft. Seit 1993 geht es um die zentrale Frage: Sollen die gesetzlichen Krankenkassen für rund 90 Prozent der Bevölkerung weiterhin eine Säule des Sozialstaates bleiben, oder soll das Gesundheitssystem als marktwirtschaftlicher Dienstleistungssektor geführt werden? Noch befinden wir uns in einer Zwischenphase, noch ist nicht alles umgesetzt. Aber wenn dieser Weg weitergegangen wird, ist er unumkehrbar.

Es gibt zwei krisenhafte Entwicklungen, die eine Antwort verlangen. Zum einen sinken die Einnahmen – und zwar langfristig. Denn das Versicherungssystem der gesetzlichen Krankenkassen baut auf Vollbeschäftigung auf. Ohne Arbeitslosigkeit können die Krankheitskosten durch gut 10 Prozent vom Lohn finanziert werden. Doch seit Beginn der 80er Jahre herrscht Massenarbeitslosigkeit, und seitdem haben auch die Krankenkassen erhebliche Einnahmeprobleme. Kommen nun noch Verlagerungen von finanziellen Lasten aus der Renten- und Arbeitslosenkasse in die gesetzliche Krankenkasse hinzu – allein 1996 flossen mindestens vier Milliarden Mark in dieses Richtung –, dann müssen die Kassen ihre Beitragssätze erhöhen.

Das zweite große Einnahmeproblem resultiert aus dem wachsenden Anteil von RentnerInnen. Nach dem Solidarprinzip erfolgt eine Umverteilung zugunsten der RentnerInnen. So waren 1994 knapp ein Viertel aller Versicherten RentnerInnen, die etwa 16 Prozent aller Beiträge bezahlten, aber 42 Prozent aller Ausgaben beanspruchten. Daraus ergibt sich eine Umverteilungslücke von 44 Milliarden Mark. Somit werden allein 28 Prozent des Beitragsaufkommens benötigt, um die Gesundheitskosten der RentnerInnen aufzufangen. Mit dem Anteil der RentnerInnen wird in den nächsten Jahren auch diese Umverteilungslücke rasant größer.

Was tun? Als erstes gilt es, die Vorstellung aus dem Weg zu räumen, daß im Gesundheitwesen nur gut ist, was auch teuer ist. Das US- amerikanische Gesundheitswesen ist z.B., bezogen auf das Bruttosozialprodukt, fast doppelt so teuer wie das in der Bundesrepublik. Und trotzdem sind in den USA etwa 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt nicht erfaßt; auch RentnerInnen werden nur äußerst dürftig versorgt. Ein gutes Gesundheitssystem muß nicht teuer sein – aber, auch hierzulande, besser organisiert als bisher.

So führt die strikte finanzielle und rechtliche Trennung von ambulantem und stationärem Sektor zu enormen Reibungsverlusten. Unzählige Untersuchungen werden doppelt durchgeführt, Patienten bleiben länger im Krankenhaus, werden unnötig eingewiesen, es gibt zwei getrennte Erste-Hilfe- Systeme usw. Diese unsägliche Situation ist seit über 20 Jahren Thema – geändert hat sich bisher nichts Entscheidendes.

Ein weiteres Beispiel ist das inflationstreibende Bezahlungssystem der niedergelassenen Ärzte. Das sogenannte „Punktwertesystem“ finanziert jede Einzelleistung. Die unmittelbare Koppelung jeder einzelnen ärztlichen Handlung mit dem persönlichen Einkommen führt zu kostentreibender „Mengenausweitung“ medizinischer Leistungen. Je nach Fachdisziplin muß eine niedergelassene ÄrztIn für ein 10.000-Mark-Monatseinkommen, etwa das Drei- bis Sechsfache an medizinischen Leistungen abrechnen. Jede ÄrztIn, die nur das medizinisch Notwendige verordnet, geht pleite. Auch die eingeführte „Deckelung“ der Behandlungsbudgets ist nur eine hilflose Notbremse. Sie bestraft die gute ÄrztIn und läßt dem Abrechnungskünstler mit seiner „Krankenscheinauslastungssoftware“ genügend Spielraum.

Das dritte eklatante Beispiel sind die Arzneimittelkosten. In den letzten zehn Jahren sind die Ausgaben der gesetzlichen Kassen für Arzneimittel rasant gesteigen. Bremsversuche durch die verschiedenen Gesetze waren meist nur von kurzer Dauer. Nach übereinstimmender Expertenmeinung ließen sich die Kosten für die Arzneimittel um mindestens 25 Prozent (etwa 6,5 Milliarden Mark) senken, wenn mit Hilfe einer Positivliste auf Medikamente mit ungesicherter Wirkung verzichtet und bei gleichem Inhalt das jeweils kostengünstigere Medikament eingesetzt würde. Allerdings wurde die Positivliste nach Intervention der Pharmaindustrie gestrichen. Standortpolitik auf Kosten der Beitragszahler ist eben wichtiger.

So verlangt die Krise im Gesundheitswesen eine Entscheidung, ob in Zukunft mehr Ethik oder Monetik regieren soll. Die Bundesregierung hat sich entschieden. Läßt man alle politischen Phrasen weg, so zielt die Koalition unter den Schlagworten „Eigenverantwortlichkeit“ und „Kostenbewußtsein“ in Richtung Deregulierung und Marktwirtschaft. Das Konkurrenzprinzip soll das bisher Unmögliche vollbringen. So sollen die Krankenkassen untereinander mit niedrigen Beiträgen um ihre Mitglieder, die niedergelassenen Ärzte mit den Krankenhäusern um Patienten, einzelne Fachdisziplinen durch preisgünstige Angebote von Operationsverfahren um Auslastung konkurrieren. Die Krankenkassen und die einzelnen Patienten sollen als Käufer von gesundheitlichen Dienstleistungen auftreten, die jeweiligen Preise der Anbieter (Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaindustrie etc.) bilden sich am Gesundheitsmarkt durch Angebot und Nachfrage.

Am Ende dieser Deregulierung werden wir unser Gesundheitssystem nicht wiedererkennen, denn der Gesundheitsmarkt wird dann hotelähnliche „Mercedes-Kliniken“, für die „rich and beauties“ und durchrationalisierte „Fließbandkrankenhäuser“ für die Normalbevölkerung bereithalten. Es wird teure „ModeärztInnen“ und „Aldi-Doktoren“ geben, und rund um die Flughafenzentren können sich medizinische Dienstleister etablieren, die für die Miles-and- more-Society den halbjährlichen Ganzkörper-check-up anbieten.

Dies wird zwar alles sehr viel teurer sein als das heutige Gesundheitswesen – aber auf Basis von weitgehend privaten Versicherungen ist dies kein Problem mehr. Es geht dann nicht mehr um Lohnnebenkosten oder Staatsquote, sondern um einen modernen Dienstleistungssektor, der vorher unter den miefigen Bedingungen eines Sozialstaates nicht expandieren konnte. Wer da nicht mithalten kann, hat eben Pech gehabt. Bernd Köppl