■ Schlagloch
: Willkommen, Geschichte, recycelt! Von Nadja Klinger

„Ich brauche Großaufnahmen. Ganz viele Großaufnahmen. Damit man sieht, was in mir vorgeht.“

Corinna Harfouch als

Eva Braun im Berliner

Ensemble, März 1997

Einmal sprach der Bundeskanzler vom Frühling. Das war 1990. Im Osten werde es bald „blühende Landschaften“ geben, sagte er. Vor Begeisterung vergaßen die DDR-Bürger, wo sie herkamen und was gewesen war. Sie stürzten in die Zukunft.

Die Menschen rasen immer vorwärts und schleifen die Geschichte hinter sich her durch den Dreck. Wenn sie können, lassen sie sie fallen. Wenn sie sie wieder brauchen, erzählen sie sie neu.

1930 wurde im Berliner Friedrichshain die U-Bahn-Station „Petersburger Straße“ eröffnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt dieselbe U-Bahn mit denselben Fahrgästen an derselben Station am „Bersarinplatz“. Anfang 1958 fügten die Berliner dem Namen des ersten sowjetischen Stadtkommandanten etwas eigenes hinzu. Die Station hieß nun „Frankfurter Tor/Bersarinplatz“. Wenige Monate später strichen sie den Namen „Bersarinplatz“ wieder heraus.

Nachdem es die DDR nicht mehr gab, sollte es auch die Station „Frankfurter Tor“ nicht mehr geben. Sie hieß jetzt „Rathaus Friedrichshain“. Doch das Rathaus zog bald an einen anderen Ort. Die Menschen wußten nicht mehr weiter. Die Geschichte mußte her. Seit September 1996 heißt die U-Bahn- Station wieder „Petersburger Straße“. „Das ist Berlin“, kommentierte der Berliner Verkehrssenator Jürgen Kleemann. Willkommen, Geschichte, recycelt!

Berlin ist eine Stadt voller weggeworfener Geschichte. In einer Sandgrube lagert der zerstückelte Lenin vom Leninplatz. Die Mauer ist verscherbelt worden. Am Jahrestag des 9. November legte die Volksbühne ihren Fußboden mit Hunderten ungültigen Straßenschildern aus. Das Theaterpublikum trampelte über sie hinweg. Vor einem alten Stadtplan staunte es darüber, wo noch vor sieben Jahren die Grenze gewesen war.

Je gedankenloser die Menschen vorwärts rasen und dabei ihre Geschichte abwerfen, um so mehr wird Geschichte zur Alltagserfahrung von Veränderung und Umgewöhnung: Sie bleibt nicht, sie vergeht. Die Menschen nennen es Wandel und Veränderung, wenn sie sich lästiger Erinnerungen entledigen. Irgendwann kommt der Moment, da sie so weit gerannt sind, daß sie nichts mehr vor sich sehen. Dann drehen sie sich um. Aber da ist auch keine Erinnerung mehr. Sie fangen an, die Erinnerung zu suchen. Das nennen sie Identität und Heimat.

Recycelte Geschichte ist verfärbte und verformte Geschichte. Vor ein paar Tagen beschloß das Berliner Abgeordnetenhaus, die U-Bahn-Station „Petersburger Straße“ wieder in „Frankfurter Tor“ umzubenennen. „Der Name ist richtig, der Umweg idiotisch“, sagte der stellvertretende Friedrichshainer Bürgermeister. Die U- Bahn-Station ist von der Geschichte längst verlassen worden. Ein gutes Gedächtnis, so es denn noch irgendwo eines gibt, kann auch die Idioten nicht vergessen.

Bei jeder Umbenennung gibt es Gegner. Jedem Abriß stellen sich Menschen entgegen. Das Berliner Stadtschloß ist nicht von allen gesprengt, der Palast der Republik nicht von allen stillgelegt worden. Dennoch sind beide Fälle ein Beispiel dafür, wie Geschichte recycelt wird und dadurch mißbraucht werden kann. Und das von allen Seiten.

Einst waren die Vernichtung des Schlosses und der an dessen Stelle errichtete Palast der Republik Symbol für die Willkür der SED. Heute ist der stillgelegte Palast Symbol für die Vernichtung all dessen, was DDR war. Weil diese Symbolik aber nichts als mißbrauchte Geschichte ist, die, je nach Zweck, so oder so recycelt worden ist, steht derselbe stillgelegte Palast, vergleicht man ihn mit dem ebenfalls asbestbelasteten ICC, als Symbol für die Ungleichheit von Ost und West. Oder, mißt man ihn an heutigen städtebaulichen Vorstellungen, für die Geschmacklosigkeit sozialistischer Bauweise. Oder oder oder.

In einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung zum Palast der Republik drohte ein Mann, der sich als Historiker ausgab, den Abrißbefürwortern: „Das kollektive Gedächtnis ist stärker als der Abriß.“ Ernsthaft bedroht zu fühlen braucht sich aber keiner. Wir wissen spätestens seit der Deutschen Einheit alle, daß es kein kollektives Gedächtnis gibt.

Vergangene Woche sagte Berlins Senatsbaudirektorin Barbara Jakubeit: „Das einzige, was dem Leninplatz fehlt, ist der Lenin.“ Das Lenindenkmal wurde dort vor ei paar Jahren demontiert. Wenn ich das weiterdenke, dann würde das bedeuten, daß aus dem zerstückelten Lenin in der Sandgrube wieder ein Denkmal gemacht werden würde. Als das Denkmal abgeräumt wurde, zeigten die Zeitungsfotos Lenins riesengroßen Kopf, der in der Schlinge an einem Kran baumelte. Ein symbolisches Bild. Protestdemonstrationen und Unterschriftensammlungen haben damals nichts genutzt.

Je mehr über das Lenindenkmal, über den Palast der Republik, über diverse U-Bahn-Stationen und Straßen gestritten wird, um so mehr werden die zu Orten, an denen Geschichte verschwindet. Für Berlin, die Hauptstadt Deutschlands, ist das nicht die beste Symbolik. Die Stadt versucht, an anderer Stelle die Geschichte zu bewahren. An Orten wie dem „Berliner Ensemble“ zum Beispiel. Eva Braun träumt auf der Bühne von Adolf Hitler, dem „größten Mann Deutschlands“, der ihr seinen kleinen Schwanz anvertraut hat: „Wenn ich meine Hand schließe, dann verschwindet er darinnen.“ Corinna Harfouch ist eine große Schauspielerin. Sie macht Geschichte, so muß das im Theater sein, verständlich und amüsant. Sie recycelt sie. „Ich brauche Großaufnahmen. Ganz viele Großaufnahmen. Damit man sieht, was in mir vorgeht“, ruft Eva Braun von der Bühne. Das Publikum applaudiert. Ja, es fehlt an Großaufnahmen, an bunten Filmen, an kostspieligen Aufführungen, um Geschichte nachvollziehbar zu machen, denken es. Jede Vorstellung könnte ein schönes Fest sein.

Wenn sich die Menschen nach dem vielen Vorwärtsrennen irgendwann auf ihre Geschichte besinnen, geht es ihnen nicht gut. Dann ist es allerdings zu spät. Die Impulsa AG Elsterwerda in Brandenburg zum Beispiel war einst führend auf dem osteuropäischen Markt. Seit 1990, seit sich auch die Brandenburger für den schnellen Beitritt zur Bundesrepublik entschieden hatten, war sie der Treuhand ausgeliefert. Von einst 2.700 Mitarbeitern waren bald nur noch 250 da. Die Geschichte einer ganzen Region, die der Melkmaschinenbetrieb maßgeblich mitgeschrieben hat, löste sich in der Zukunft von Arbeitslosen und Arbeitern auf. „Man hat selbst unter Freunden zu tun, daß man noch dieselbe Sprache spricht“, sagte Mirko, der Betriebsrat. Auf den endlosen Wegen vom Betrieb zum Rechtsanwalt, zum Gericht oder zur Gewerkschaft fuhr er an weiten Wiesen und tiefen Wäldern vorbei. „Wir werden die Bundesrepublik beim Europäischen Gerichtshof verklagen“, sagte Mirko. „Wir werden die blühenden Landschaften einklagen, die uns versprochen wurden.“