Mit untrüglichem Sinn für Dramaturgie

Rußlands Präsident feuert die gesamte Regierung. Nur Premier Tschernomyrdin und Vizepremier Tschubais behalten ihre Posten. Ein Votum der Duma ist nicht notwendig  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Alle sind sie weg vom Fenster. Boris Jelzin bewies in den letzten Tagen wieder Sinn für Dramaturgie. Gestern entließ der Präsident das gesamte Kabinett mit Ausnahme des Premiers Wiktor Tschernomyrdin. Ihm ließ er eine Woche Zeit, um eine neue Regierungsmannschaft aufzustellen. Doch der eigentliche Drahtzieher im Weißen Haus heißt nun Anatoli Tschubais, der vom Stabschef im Kreml als erster und wohl einziger Vizepremier in die Regierung überwechselt. Tschubais erhielt damit ein eindeutiges Mandat des Präsidenten, wie es seit dem Architekten der Reformen, Jegor Gaidar, kein Politiker mehr erhalten hatte. Wiktor Tschernomyrdin, der Jelzin über Jahre die Treue gehalten hat, muß sich mit einer bescheideneren Rolle abfinden. Daß Jelzin an ihm festhält, erklären die Mehrheitsverhältnisse im Parlament, das Kommunisten und Nationalisten beherrschen. Da Tschernomyrdin als Galionsfigur bleibt, wird das sonst fällige Votum der Duma umgangen.

Tschernomyrdin hat den Ruf eines Pragmatikers, der nicht zuletzt Stabilität garantiert. Aber er ist nicht der Mann, der Reformen vorantreiben könnte. Unter seiner und Jelzins Ägide versank das Land in eine beängstigende Stagnation. Fast 50 Trillionen Rubel (15 Milliarden Mark) schuldet der Staat Arbeitern und Angestellten. Trotz mehrfacher Versprechungen zeigte sich die Regierung nicht in der Lage oder nicht willens, die Rückstände auszugleichen. Für Ende März kündigten die Gewerkschaften einen landesweiten Streik an. Die Kommunisten meldeten zum gleichen Termin ein Mißtrauensvotum an. Ein unmißverständliches Signal von seiten des Präsidenten war überfällig, um der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit Sicherheit wird die gesamte Garnitur der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialminister ausgewechselt. Für die Bataillone der Unterministerien, die seit Sowjetzeiten überwintern konnten, müssen nun neue Arbeitsplätze gefunden werden. Ein Einschnitt ist vor allem im Finanzbereich und der Steuerpolitik zu erwarten. Obgleich die Steuereinnahmen des Staates im dritten Quartal 1996 spürbar anstiegen, Tschubais hatte sich vorübergehend der Aufgabe angenommen, fehlten dem Fiskus zu Jahresbeginn wieder 40 Milliarden Mark. Nicht verjagt wird wohl Außenminister Primakow, der die russischen Interessen bisher zur Zufriedenheit des Kreml-Chefs vertreten hat. Ein Wechsel, kurz bevor eine Entscheidung über die Osterweiterung der Nato ansteht, würde Moskaus Position eher schwächen. Voraussichtlich gehören dem neuen Kabinett Maxim Boiko, der Tschubais als Vizestabschef diente, und Alfred Koch an. Er leitete bisher die staatliche Kommission für Eigentum. Beide genießen einen liberalen Ruf und gehören zur jungen Politikergeneration. Das endgültige Aus für Finanzminister Wladimir Potanin hatte Jelzin schon am Donnerstag in seiner Rede zur Lage der Nation angedeutet. Er erklärte, die staatlichen Finanzströme würden nicht mehr über kommerzielle Banken abgewickelt. Bevor Potanin in die Regierung einrückte, leitete er die Uneximbank. Während seiner Amtszeit gelangen dem Bankhaus eine Reihe lukrativer Deals. Für die Staatsfinanzen brachte er weniger Engagement auf.

Tschubais Stunde der Wahrheit hat geschlagen. Nun muß er unter Beweis stellen, daß sein Reformwille stärker ist als der Einfluß seiner ehemaligen Gönner. Sein Nachfolger im Präsidialamt wird Walentin Jumaschew, ein Journalist, der dem Präsidenten half, zwei seiner Bücher zu verfassen. Er selbst ist dagegen noch ein relativ unbeschriebenes Blatt.Kommentar Seite 10