■ Die Ohrwaschel als Venus von Milo
: Piercing, Branding und anderes

Jahrhundertelang herrschten Bitterkeit und Ödnis in Europa – denn ganz offensichtlich hatte der Schöpfer sich nicht besonders viel Mühe mit dem Design seines Ebenbildes gegeben: Die Menschen sahen alle gleich aus, und schön waren sie auch nicht gerade geraten. Sie hatten unspektakuläre Nasen, je zwei gewöhnliche Augen und Ohren, eine nichtssagende Körperöffnung, die sich Mund nannte, und geradezu lächerlich waren die Möglichkeiten unserer Vorfahren, ihr Äußeres aufzuwerten: Sie konnten sich Colliers um den Hals hängen und einen Ring an den Finger stecken – ihre Nasen aber sahen immer noch genauso langweilig aus wie die Riechorgane ihrer Nachbarn, Freunde und Verwandten.

Zum Glück aber haben die Körperstylisten in den letzten Jahren ein paar revolutionäre Neuerungen erfunden, die es dem Zeitgenossen leichtmachen, seinem Aussehen eine ganz persönliche Note zu geben: Man kann sich kleine Brillanten auf die vorderen Kauwerkzeuge kleben, sich das Abzeichen seines Lieblingsclubs auf den Oberarm tätowieren lassen oder sich mit Hilfe gefärbter Kontaktlinsen ein paar schreiend gelbe Katzenaugen zulegen. Am buntesten aber ist die Welt durch das Piercing geworden: Schon trifft man Leute, die sich ihre Augenbrauen mit 32 Silberringen vollverkleidet haben oder beim Schneuzen ständig Schwierigkeiten bekommen, weil sie eine Art Serviettenring in der Nasenscheidewand tragen. Anderen hängt die Zunge wegen eines wohl zu schweren Platinklunkers ständig zum Halse heraus, und eigentlich wäre es kaum ein Wunder, wenn die Schmuckhandwerker nächstens damit beginnen, ihren Kunden stricknadelähnliche Spieße quer durch den Schädel zu treiben.

Rasant jedoch hat sich das Durchlöchern von Haut und Knorpeln bis in die verschlafensten Winkel der Welt verbreitet. Erschüttert haben die Avantgardisten von gestern feststellen müssen, daß der Knopf in der Nase sehr rasch zu einem Bestandteil der serienmäßigen Grundausstattung ihrer Mitmenschen geworden ist, und also wurde es kürzlich mal wieder allerhöchste Eisenbahn für ein unerhörtes Novum. Auf diese Weise kam das Branding in die Welt. Ursprünglich wurde das Branding natürlich von nordamerikanischen Ranchern zur Kennzeichnung ihrer Viehbestände erfunden, doch was auf eine Kuhhaut geht – werden sich die Körperschmuckpioniere gedacht haben –, soll an der Menschenschale nicht scheitern. So werden neuerdings gerade Linien, krumme Linien und Schlangenlinien in Wangen und Stirnen eingebrannt und allgemein für trendy gehalten. Nicht ganz so schön ist es, daß bei der Narbenbildung manchmal Komplikationen auftreten und die Hipster ein paar Wochen später aussehen, als wäre in ihrem Gesicht eine Bombe explodiert. Aber wirklich schlimm ist das nicht – denn immerhin unterscheiden sie sich beträchtlich von ihren Mitkreaturen, und das ist ja wohl die Hauptsache.

Schlimmer wäre es, wenn auch das Branding sich wieder in Windeseile in allen Bevölkerungsschichten verbreiten sollte. Wenn morgen die ersten Manager sich die Logos ihrer Betriebe auf die Stirn brennen lassen oder die jungen Girls den Namen ihrer Lieblingsband in Narbenschrift auf dem Hals tragen, dann werden sich die notorischen Nonkonformisten wieder was Neues ausdenken müssen. Doch was wird das sein? Werden sie sich eine Ladung Schrot in die Backe jagen? Ihre Ohrwaschel zu einem Abbild der Venus von Milo zurechtschnippeln lassen? Oder werden sie sich unerschrocken und kurzerhand den linken Arm amputieren? Man darf gespannt sein. Joachim Schulz