Metronom im Kopf

Abbild und Original: Mit dem Kinoerfolg von „Shine“ kehrt auch David Helfgott auf die Bühne zurück. Unter dem Label „Genie und Wahnsinn“ verbirgt sich ein mittelprächtiger Pianist  ■ Von Annette Lamberty

David Helfgott befindet sich in bester Gesellschaft. Daß Pianisten dem Podium für viele Jahre oder gar den Rest ihres Lebens den Rücken kehren (Horowitz! Gould!!), ist keine Seltenheit. Übersteigerte Erwartungen, die häufig auf besonders spektakuläre Karrierestarts folgen, lassen schnell jeden auch nur mittelmäßigen Konzertabend als Katastrophe erscheinen.

Natürlich ist es durchaus möglich, auch über einen unbekannten Pianisten mit diesem Problem einen guten Film zu drehen. Aber wie schrill wird im Werberummel um „Shine“ und Helfgotts Klavierspiel das beliebte Begriffsduett „Genie und Wahnsinn“ gesungen! Kleine Kostprobe aus dem Faltblatt der rechtzeitig zum Filmstart erschienenen Rachmaninow-CD: „...Helfgott's intellect operates on a completely seperate wavelength which picks up cosmic noises and vibrations.“ Wer kann das schon von sich behaupten ...

Zu hören ist auf der CD zunächst ein Live-Mitschnitt von Rachmaninows 3. Klavierkonzert. Der Eindruck, daß man es bei Helfgott mit einer sehr eigenen Persönlichkeit zu tun hat, stellt sich in der Tat sofort ein. Zu Beginn zeigt er eine Neigung, das sentimentale Hauptthema sehr individuell zu phrasieren, wobei er die Phrasen tendenziell am Anfang und gegen Ende betont, anstatt sie zur Mitte hin aufzubauen. Damit erzielt er einen starken artikulatorischen Effekt, als würde er per Klavier das gesprochene Wort ans Auditorium richten, anstatt durch das Klavier zu singen, wie eine der penetrantesten Forderungen der klavierpädagogischen Branche traditionell lautet. Er macht jedoch keine Masche daraus, zeigt sich in Sachen Phrasierung zunächst flexibel.

Schon bald wird allerdings klar, daß Helfgott nicht in der Lage ist, den vielversprechenden Beginn während des über vierzigminütigen Konzertes konsequent fortzuführen. Sehr konzentrierte Phasen kitschfreier Noblesse wechseln sich ab mit Passagen, die er geradezu mechanisch abspielt, manchmal wirkt er fahrig und unentschlossen. Es fehlt ein übergeordnetes Konzept, das dieses monströse Konzert innerlich zusammenhält.

Die übrigen Aufnahmen auf der CD sind Studioproduktionen, und wieder einmal zeigt sich, daß viele Pianisten, für die öffentliches Auftreten ein Alptraum ist, paradoxerweise bei Live-Konzerten dennoch meist besser abschneiden. Wenn es um Kopf und Kragen geht, wird eben mehr Blut geschwitzt. In der Studioaufnahme des g-Moll-Prélude nimmt Helfgott die Überschrift „Alla marcia“ zu wörtlich, als ob es sich in Wirklichkeit um ein Stück für Blaskapelle handeln würde, das lediglich fürs Klavier transponiert wurde. Während er sich fast durchgehend vier Schwerpunkte pro Takt gestattet, sind es bei Horowitz' Aufnahme desselben Stückes lediglich halb so viele. Und obwohl Horowitz nur unwesentlich schneller spielt, wirkt es leichtfüßig und auf witzige Art und Weise eloquent und spielerisch. Helfgott dagegen scheint es mit einem unerbittlich tickenden Metronom im Kopf zu spielen, starr und mit einer sehr eingeschränkten dynamischen Bandbreite: Die kosmischen Schwingungen scheinen sich doch eher als angezogene Handbremse zu erweisen.

Helfgott wird mit dem Rummel um seine Person kein Gefallen getan sein. Helfgott ist kein Über- oder Außerirdischer. Seine inspirierten und inspirierenden Momente, die er ja in der Tat hat, auch wenn sie eher weltlicher Natur sind, rücken zwangsläufig in den Hintergrund des Interesses. Seine Konzerte werden in erster Linie Schaulustige anziehen, die ein „verrücktes Genie“ erleben wollen, und man fühlt sich an Glenn Goulds Bemerkung erinnert, der Klavierabende als „blutige Hetzjagden“ bezeichnete, zu denen die Leute aus dem gleichen Antrieb wie zum Stierkampf gehen. Für jemanden wie Helfgott, der bereits einmal für vierzehn Jahre die Flucht angetreten hat, wahrlich keine verlockenden Aussichten.

Wer an Werken Rachmaninows interessiert ist, der sollte sich an Aufnahmen von Horowitz oder beispielsweise Kissin halten. Ob deren Versionen genial sind, sei dahingestellt, eines sind sie aber mit Sicherheit: wahnsinnig gut.

David Helfgott plays Rachmaninov: Piano Concerto No 3, Op. 30, in d-Moll und verschiedene Préludes. Copenhagen Philharmonic Orchestra. Milan Horvat. RCA VICTOR Red Seal 74321 40378 2