Albanien - eine traumatisierte Nation

■ Der Schriftsteller Ismail Kadare sieht die Ursache für die derzeitige Rebellion in seinem Land in der jahrelangen Isolierung von Europa. Er verlangt eine entschlossene Aktion, um ein Blutbad in seiner

taz: Sie waren Ende vergangenen Jahres zuletzt in Albanien. Haben Sie gespürt, daß sich eine Rebellion anbahnte?

Ismail Kadaré: Die Atmosphäre war sehr angespannt. Die politische Klasse war gereizt. Sowohl die Regierungspartei als auch die Opposition gebrauchten eine wilde, inakzeptable Sprache. Es war eine politische Barbarei. Es war klar, daß diese verbale Gewalt eines Tages zu körperlicher Gewalt werden könnte.

Sie selbst haben Anfang der 90er Jahre von der bevorstehenden Demokratisierung Ihres Landes gesprochen. Sie wollten sogar dorthin zurückkehren.

Ich bin ja auch zurückgekehrt. Ich wollte meine Zeit zwischen Frankreich und Albanien aufteilen. Aber es war in Albanien nicht ruhig genug für mich. Das Klima war ständig elektrisiert. Man verlangte unmögliche Dinge von mir. Ich bin dort unglücklicherweise sehr bekannt. So etwas ist in einem Balkanland schwierig.

Warum?

Das sind sehr leidenschaftliche kleine Länder. Man erwartet von Ihnen, daß Sie sich in alle politischen Streitereien einmischen. Das kann ich nicht. Ich bin Schriftsteller. Die Politik von dieser oder jener Partei interessiert mich nicht. Ich will, daß es dem Land gutgeht. Ich schreibe meine Bücher für das ganze Volk und nicht für die eine oder andere Hälfte.

Woran ist die albanische Demokratisierung gescheitert?

Es ist sehr früh für Analysen. Aber es gab diese schreckliche Radikalisierung nach dem Wahlsieg der Rechten, die Polarisierung der beiden politischen Lager. Sie haben beide haben davon geträumt, sich gegenseitig zu zerstören.

Wo liegt die Schuld an der Entwicklung?

Schuld hat vor allem diese schreckliche Isolierung. Das war fatal. Albanien ist heute eine traumatisierte Nation. Es ist das einzige europäische Land, das völlig von der europäischen Familie verlassen war. Für die anderen kommunistischen Länder zeigte der Westen wenigstens Interesse.

Ist also Westeuropa für die aktuelle Situation verantwortlich?

An erster Stelle ist Albanien selbst verantwortlich, weil es sich isoliert hat. Aber Westeuropa hat Albanien im Stich gelassen. Man hat nie über dieses Land geredet. Die kommunistische Diktatur nie kritisiert. Das war ein vergessenes Land. Zum Beispiel sendete die Münchener Station „Radio Free Europe“ für alle europäischen Länder – außer für Albanien. Als gehörte Albanien nicht dazu.

Hat Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Albanien richtig reagiert?

Am Anfang ja. Aber es gab eine negativistische Psychose. Man sprach entweder gar nicht von Albanien, oder man sammelte ausschließlich Schlechtes. Es war die Rede von einem Land, in dem häßliche Dinge passieren. Da das ausländische Fernsehen in Albanien sehr verbreitet ist und das Leben stark beeinflußt, sind sogar die Albaner selbst von diesem Negativ- image vergiftet.

Was sagen Sie zu den aktuellen Berichten aus Ihrem Land?

30 Prozent der Leute, die Sie im Fernsehen sehen, sind Zigeuner oder Bettler. Es ist einfach, auf diese Art ein schwarzes Bild von einem Land zu zeichen. Ich habe wirklich nichts gegen Zigeuner, aber sie sind etwas Besonderes. Warum sagt man nicht: Das sind Zigeuner. Man kommt ja auch nicht nach Paris, filmt Zigeuner und sagt: Das sind Franzosen.

Was sollen die Journalisten in Albanien denn filmen?

Das normale Leben. Es gibt einen antialbanischen Rassismus. Albanien hat es sich mit der ganzen Welt verdorben. Mit den Rechten wie mit den Linken. Mit den Kommunisten in Moskau wie mit denen in Peking. Das ist jetzt der Preis dafür.

Wer sind die Rebellen?

Das ist eine seltsame Mischung von Leuten. Solche, die wirklich die Demokratie wollen. Solche, die wirtschaftlich von dem betrügerischen Pyramidensystem getroffen sind. Aber auch gemeine Verbrecher, Abenteurer und Gangster. Das ist das Chaos. Wo politische Prinzipien sind und wo Abenteurertum ist, läßt sich nicht erkennen. Am Anfang wollten sie Geld. Jetzt wollen sie, daß der Präsident zurücktritt. Aber das läßt sich doch politisch lösen.

Sehen Sie in dieser Rebellion kein einziges positives Element?

In jeder Rebellion ist etwas Positives – vorausgesetzt, sie endet nicht in einem Blutbad. Das ist eine starke Lektion. Besonders für die Zukunft und für die politische Klasse. Dieser Durst nach Macht ist etwas Schreckliches. Aber diese Lektion darf nicht mit einem Blutpreis bezahlt werden. Wenn es zu weit geht, ist die Umkehr schwer.

Ist Berisha am Ende?

Er ist in einer sehr dramatischen Situation. Er hat auch seine Anhänger. Bisher haben wir die eine Hälfte von Albanien gesehen, die Seite der Aufständischen. Aber wenn die andere Seite auch zu den Waffen greift, dann wird es wirklich ein Genozid.

Ein Genozid unter Albanern?

Das muß auf jeden Fall verhindert werden. Eine sehr entschlossene Aktion ist nötig. Eine internationale Schlichtung. Die Dinge sind schon sehr weit gegangen. Man hat zugelassen, daß die Situation verkommt – wie überall auf dem Balkan. Und jetzt gibt man der albanischen Regierung den Rat, keine Gewalt zu benutzen. Obwohl es eine überraschende bewaffnete Rebellion gibt.

Unter Ägide der USA oder Europas?

Egal, beide. Wenn vor Ihren Augen ein Verbrechen geschieht, dann müssen Sie es verhindern.

Das wäre eine Schlichtung zugunsten eines Präsidenten, der kein Vertrauen mehr im Volk genießt.

Es wäre eine Schlichtung, um ein Massaker aufzuhalten.

Sie haben die internationale Unfähigkeit in Exjugoslawien gesehen.

Das macht mich sehr traurig. Aber in Albanien ist es viel leichter. Es sind nicht zwei Nationen. Es ist ein interner Streit. Es ist bloß ein Stopfen nötig, um Garantien für die Wahlen zu geben. Denn im Prinzip sind alle mit der Demokratie einverstanden. Albanien ist nicht Bosnien, wo es um Territorium geht. In Albanien gibt es die Konfrontation von Ideen. Jetzt gibt es einen kommunistischen Premierminister – so kann man Probleme vermeiden.

Wie soll der Stopfen aussehen?

Zunächst einmal brauchen wir militärische Präsenz. Das ist das Wichtigste. Danach kann man alles weitere sehen.

Sie reden von einem internen Problem. Es gibt aber starke albanische Bevölkerungen im Kosovo und in Makedonien. Kann der Konflikt sich ausweiten?

Sicher. Das ist der Grund, weshalb der Konflikt angehalten werden muß. Es gibt genauso viele Albaner in Exjugoslawien, wie in Albanien selbst. Man darf die Dinge nicht weiter treiben lassen.

Mit wem kann Europa überhaupt noch verhandeln? Ein Viertel des Landes wird nicht mehr von der Regierung kontrolliert.

Man muß mit der Regierung sprechen. Die Aufständischen sind sich untereinander nicht einig. Aber wenn es dem Land dient, bin ich nicht dagegen, mit ihnen zu sprechen. Bald wird es freie Wahlen geben. Es müssen Lösungen auf demokratischem Weg gefunden werden. Die Waffen müßen niedergelegt werden.

Würden Sie eine politische Rolle in Albanien akzeptieren?

Nein. Ich will nicht. Ich sage meine Meinung. Aber jetzt ist es zu spät. Die Dinge sind sehr weit gegangen. Die Sprache ist sehr hart. Es gibt keine Zeit für Ideen und Kultur. Jetzt brauchen wir schnelle Lösungen in wenigen Tagen. Die beiden Seiten bewegen sich aufeinander zu.

Interview: Dorothea Hahn/Paris