Beschwörungen und Illusionen

■ Als vorgezogener Abschied für den scheidenden György Ligeti gab der NDR ein Sonderkonzert

Mit einem schalltoten Raum hatte er Hamburg verglichen: Die künstlerische Äußerung verhalle wirkungslos in der Stadt des Handels und Verkehrs. Deshalb verläßt György Ligeti, einer der bedeutendsten lebenden Komponisten, nach 23 Jahren Hamburg und siedelt im kommenden Sommer nach Paris über – nicht im Zorn, aber eben nicht glücklich über die mangelnde Resonanz auf sein Schaffen. Schade, denn der künstlerische Humus der Stadt wird darum nicht dicker.

War das gemischte Sonderkonzert in der NDR-Reihe das neue werk am Mittwoch auch eine Ehrung für György Ligeti aus traurigem Anlaß? Immerhin war der Komponist anwesend und das Schwergewicht des Abends bildeten seine 14 Études für Klavier. Die ersten sieben Etüden hatte Ligeti bereits 1985 fertiggestellt, nun spielte Pierre-Laurent Aimard die Hamburger Erstaufführung des gesamten Zyklus.

In den gewichtigen, recht kurzen Stücken, die in Gehalt und Bedeutung den Etüden Chopins, Liszts oder Debussys vergleichbar sind, faßt Ligeti seine rhythmischen und harmonischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zusammen. Es ist eine neue Musik. Zu komplex, zu verwirrend, zu geschwind sind die Strukturen, als daß das Ohr folgen könnte.

Da es die Gewebe nicht durchdringt, hält es sich an die faßlichen Erscheinungen: Schleunige Bewegungen, herausfunkelnde Töne, ortlos pulsende Rhythmen. Muster bilden sich, nur scheinbar an der Oberfläche. Diese Musik handelt nicht von Empfindungen, seelischen Vorgängen; sie beschwört eine eigene Klangwelt. Deren Geschichten entsprechen am ehesten optischen Illusionen – und sind dennoch ein reines Spiel mit Tönen.

Ligeti stellt mit den gewählten Titeln versinnbildlichende Analogien her. Désordre – schleunig kreisende Repetitionen, denen ein widerborstiger Rhythmus gegen den Strich fährt. Touches bloquées – zwei sich durchdringende Tonwürste, die der Pianist breitarmig trennt, um sie sich dann wieder verschlingen zu lassen. L'escalier du diable stört den Gleichgewichtssinn: die endlose Tonfolge rast hinauf, und doch sinkt die Musik in den tiefsten Baß. Zauberlehrling – aus perlenden Tontrauben blinken Scheinmelodien, magisch.

In Pierre-Laurent Aimard hat György Ligeti einen kongenialen Interpreten gefunden. Mit schwingender Leichtigkeit und äußerster Präzision verhalf er der Eigendynamik der Études zu Leben. Gewandt wechselte er zwischen leicht und schwer in Ligetis Vexierspiel mit Untergrund und Oberflächenerscheinungen, mit dem gehörigen Sinn für Humor und auch Wohlklang.

Der Veroneser Marco Stroppa macht sich ebenfalls den Raum des Klanges zunutze, doch ihn faszinieren Vorder- und Hintergrund. Aimard spielte drei Auszüge aus Stroppas Miniature estrose. Ätherische Wesen huschen niemals greifbar vorüber, Figuren hasten undeutlich auf der Stelle oder über die Klaviatur, ständig schwingen Harmonien.

Der raffinierte Umgang mit Hall und Nachhall zeigte sich besonders deutlich in der Innigen Cavatine: hinter hämmernden Anschlägen und furiosen Trillern changiert ein farbiger Hintergrund freischwebender Resonanzen.

Die Notations von 1945, Klassiker der Moderne und Juvenalium des gerade zwanzigjährigen Pierre Boulez, erwiesen sich überraschend als der handfesteste Programmpunkt: Keinesfalls einfache Kompositionen, doch hier schien alles zutage zu liegen. Aimard zauberte aus den kleinen Gesten, abrupten Brüchen und starken Kontrastwirkungen die bizarre Schönheit der farbenreichen Musik.

Hilmar Schulz