Wohin wandern wir als nächstes aus?

Ein Kieselstein, eine Wassermelone, die geschnitten wird, der Geschmack einer Frühstückswurst an der rumänischen Grenze 1929: Der gebürtige Serbe Charles Simic hat seine Autobiographie als Skizzenbuch verfaßt  ■ Von Volker Weidermann

Vieles ist unbedeutend in Charles Simics Erinnerungsbuch. Alles eigentlich. Fast alles. Der Krieg nicht, aber der kommt kaum vor. Oder nur so, wie ihn ein kleines Kind erlebt: Der deutsche Wehrmachtshelm, den es einem toten Soldaten abgenommen hat und stolz auf dem Kopf trägt, und der ist voller Wanzen. Der nahe Fluß, in den man nur die Füße eintauchte: „Es schwammen Leichen darin.“ Sein Freund, der Luftsirenen imitiert und von den Erwachsenen dafür fast gemeuchelt wird. Sie sind sehr nervös, die Erwachsenen, die Kinder spielen Krieg: „Wir liebten den Klang der Maschinengewehre“ – rattattattatta.

Charles Simic wurde 1938 in Belgrad geboren. Als die Deutschen die Stadt bombardieren, ist er drei Jahre alt. Während des Krieges flieht er mit seiner Familie von Ort zu Ort und wieder zurück. Nach Kriegsende flieht er erneut. Er schafft es bis nach Triest, doch die Engländer schicken ihn zurück. 1953 erhält seine Mutter eine offizielle Ausreisegenehmigung für sich und ihre Söhne. Sie leben ein Jahr in Paris, bis sie das Visum für die USA bekommen. 1954 dann New York, Chicago, Wiedersehen mit dem lange vorausgereisten Vater. Gegen Ende des Buches heißt es einmal: „Mein Vater pflegte mich im Spaß zu fragen: ,Wohin wandern wir als nächstes aus?‘ Alles war möglich in diesem Jahrhundert. Das große Experiment lief weiter. Leute wie er und ich waren Versuchstiere. Merkwürdig war nur, daß eine dieser Ratten Gedichte schrieb.“

Das ist natürlich gar nicht merkwürdig. Es sind die beiden Seiten des Buches, der Weltgeschichte und ihres individuellen Counterparts. Der Blickwinkel, den Simic in seinem autobiographischen Skizzenbuch einnimmt, ist immer der abseitigste, nebensächlichste, allein der Logik von Bildern der Erinnerung folgend.

„Immer waren da Wolken wie auch Grashalme, Baumstümpfe, Büsche und Felsen, die niemand beachtete“, schreibt er über einen Klassenausflug ins Kriegsmuseum, „oder es regnete. Ein kurzer heftiger Regen, der diesem Mörder eine üble Erkältung brachte. Ich stellte ihn mir vor, wie er an demselben Abend, mit den Füßen in einem Eimer heißen Wassers, sitzt und Tee schlürft.“

Szene an Szene fügt Simic zusammen, von einem Kieselstein, den er während eines Luftangriffs betrachtet hat, dem Geräusch, das beim Schneiden einer Wassermelone entsteht, dem Geschmack einer Frühstückswurst, die sein Vater 1929 an der rumänischen Grenze gegessen hat und von der dieser so eindringlich erzählen kann. Shortest cuts.

„Was Erinnerungen haltbar macht, sind die Einzelheiten.“ Er könnte sich auch vorstellen, eine Autobiographie zu schreiben, die nur die bedeutendsten Mahlzeiten seines Lebens beschriebe, jedenfalls erinnere er sich besser an seine großen Essen als an seine großen Gedanken.

Gut, daß Charles Simic inzwischen Pulitzerpreisträger, Universitätsprofessor und anerkanntermaßen einer der bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsdichter ist (in Deutschland ist bislang erst ein von Hans Magnus Enzensberger übertragener Band erschienen), sonst könnte man ihn gar zu leichtfüßig finden, unprätentiös, unverstrüppt. „Wenn wir die Welt nicht klar erkennen können, so liegt das an den Schichten von Mythen und Metaphern, die von Dichtern aufgetragen worden sind“, heißt es einmal sehr schön. Und über seine Dichterwerdung schreibt er: Zunächst habe er eigentlich nur seine Freunde beeindrucken wollen, doch dann, über dem Schreiben, habe er einen Teil seiner selbst entdeckt, habe sich langsam ein Selbst-Bewußtsein herausgeschrieben. Die Freunde jedoch waren nicht sehr beeindruckt.

Einmal gibt er die Gedichte einem älteren befreundeten Kunstmaler zu lesen. Der läuft dabei rot an, kommt mehr und mehr in Zorn und meint: „Simic, was du schreibst, ist reine Scheiße!“ Sofort, schreibt Simic, wußte er: Der Maler hat recht. Und hätte er eine Pistole gehabt, er hätte sich (nein, nicht den Maler) auf der Stelle erschossen. Wer aus dem Schreiben sein Selbstbewußtsein gewinnt, durch Dichten sein Leben definiert, droht es in dem Moment zu verlieren, in dem dies Schreiben entschieden für nichtig erklärt wird. Vielleicht ist das ein Witz, vielleicht nur eine Übertreibung.

Jedenfalls hat Simic keine Pistole dabei. Er läuft durch die Straßen, sechzig Blocks weit vielleicht, setzt sich dann auf eine Bank und liest noch einmal seine Gedichte, streicht die meisten Zeilen durch, versucht hier und da, sie neu zu schreiben, „immer noch wütend, immer noch niedergeschlagen und trotz allem grimmig entschlossen“. Zum Schreiben, zum Dichten, zum sich Erinnern.

Charles Simic: „Die Fliege in der Suppe“. Aus dem Amerikanischen von Rudolf von Bitter. Hanser Verlag, 168 Seiten, 34 DM