Realitätsfreie Räume

Kaum noch Dialoge und schon gar keine Figuren: In der zeitgenössischen deutschsprachigen Dramatik machen sich die Zombies breit  ■ Von Jürgen Berger

I.

Ein Stück und eine Inszenierung, beide nicht spektakulär, aber dennoch stellvertretend für den Zustand zeitgenössischer deutschsprachiger Stückeproduktion der letzten Jahre. Die Rede ist von Jens Roselts (28) „Dollmatch“ und der Uraufführung seines Stückes Anfang der Spielzeit in Mainz. Regisseur war Matthias Merkle (26), und der hatte das Problem, drei Figuren zu inszenieren, die in ihrer Virtualität so nichtssagend daherkamen, daß ihr Uraufführungstod nicht zu vermeiden war.

Zwei Dolmetscherinnen und ein Dolmetscher treffen sich in einer Dolmetschpause am Strand, in Wirklichkeit sind sie wahrscheinlich Terroristen, die während internationaler Konferenzen zuschlagen. Ansonsten ist da nicht viel, und hätte der Regisseur seinen Autor gefragt, ob er überhaupt noch zwischenmenschliche Gefühle und Konflikte auf die Bühne bringen wolle, wäre dessen Antwort wohl negativ ausgefallen. Wir leben in virtuellen Realitäten, könnte Roselt gesagt haben, und deshalb sei jegliches Gefühl nur vorgetäuscht.

II.

Szenenwechsel. Einige hundert Kilometer weiter westlich, in London, gab es letzten April am kleinen und ambitionierten Gate Theater Außergewöhnliches. Die Uraufführung eines deutschen Stückes: Klaus Chattens „Sugar Dollies“ (ursprünglich „Prunksitzung“). Chatten (33) ist ein Senkrechtstarter unter deutschen Autoren, und auch „Sugar Dollies“ zeigt, wie katastrophal sich ein medientheoretisch geborener common sense auf die deutschen Dramatiker auswirkt: Glaubt man ihnen, hat der medial getränkte Mitteleuropäer keine originären Gefühle und Konflikte mehr, sondern verhält sich nur noch gemäß der Bilder, die er sich per TV, Film oder Video einverleibt.

In „Sugar Dollies“ sorgt Mutter Babette dafür, daß Tochter Tabea an einem Casting für eine Fernsehshow teilnimmt. Daß der deutsche Kleinbürger in den Game-, Heirats-, Quiz- und Actionshows, mit denen Private und Öffentlich- Rechtliche sich gegenseitig überbieten, in der Regel wie ein Zombie wirkt, ist richtig. Solche Zombies dann allerdings auch noch auf die Bühne zu bringen, ist nichts weiter als ein Ausweichmanöver von Autoren, die sich vor der Frage drücken, was diese Zombies eigentlich machen, wenn sie gerade nicht den Zombie spielen.

Anders als Roselt demonstriert Chatten immerhin die eher vergnügliche Variante eines Phänomens in zeitgenössischen deutschen Stücken, das man zunehmenden Zombieismus nennen könnte. Witzig dabei, daß Chattens „Sugar Dollies“ ausgerechnet in England uraufgeführt wurde, bieten die Autoren dort doch in Tradition des well made play noch so etwas wie dialogische Konflikteinführung und -zuspitzung.

Zu diesen Autoren zählt der 1994 gestorbene Dennis Potter. Sein Stück „Sufficient Carbohydrate“ wurde zu der Zeit ins Deutsche übersetzt, als „Sugar Dollies“ in London uraufgeführt wurde. Im deutschen Titel heißt das Stück inzwischen „Brennwerte“, die deutschsprachige Erstaufführung war in Solothurn.

III.

Schon beim Lesen wird man in eine scheinbare Sommeridylle gezogen. Zwei Männer, der alternde und der jungdynamische Manager eines Unternehmens, haben sich zusammen mit den Ehefrauen und dem Stiefsohn des Jüngeren in die Sommerfrische zurückgezogen. Es geht um Macht und die Führung des Unternehmens. Es geht aber vom ersten Satz an auch um die Intrige der Männer und Frauen; um die Verletzlichkeit des jungen Stiefsohns, der für die rauhen Sitten der Erwachsenen nicht so recht geschaffen ist. Ein altes Spiel neuaufgelegt und bis in kleinste sprachliche Ausformungen hinein menschlich nachvollziehbar.

Potter hat seine Figuren ernst genommen, genauso wie Sarah Kane (23), deren „Blasted“ sich als „Zerbombt“ zu einem der wichtigsten Stücke der aktuellen deutschsprachigen Theatersaison entwickelte. Zu Beginn wirkt es wie eine Hardcore-Version von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“. Der kaputte Ian und die junge Cate treffen im Hotelzimmer aufeinander und schrauben ihre ganz persönliche Gewaltspirale in die Höhe. Dann kommt eine Wendung aus dem Bereich privater Gewaltrituale; durch die Tür prescht ein Söldner aus dem allgegenwärtigen Bürgerkrieg, und ein völlig neues, aber ebenso konkretes Gewaltspiel beginnt.

IV.

Potter und Kane bringen auf völlig unterschiedliche Weise auf die Bühne, was in deutschen Landen noch bis in die erste Hälfte der achtziger Jahre möglich und unter anderem mit dem Namen Franz Xaver Kroetz verbunden war. Potter situiert seine Bühnenklientel in der upper class, Kane ihres im Nirgendwo einer zwischenmenschlichen, bürgerkriegsähnlichen Gewaltsituation. Gemeinsam ist beiden, daß ihre Figuren sich tatsächlich an die Wäsche wollen und verbal derart unter die Gürtellinie zielen, daß es wehtut. Und sie verfolgen strategische Interessen, auch wenn in den Dialogen scheinbar immer etwas anderes verhandelt wird. Sie sind verletzbar, leiden an der eigenen Sprachlosigkeit und haben die Aura von Gestrandeten — wie die niederbayerischen Kleinbürger à la Kroetz aus den siebziger Jahren, deren derbes Leid dialogischen Zündstoff für die Bühne abgab. Mitte der achtziger Jahre nahm Kroetz sich seine midlife crisis; daß er seit kurzem als Regisseur eigener Stücke auferstanden ist und Thirza Bruncken sein Drama „Der Dichter als Schwein“ zur späten Uraufführung brachte, dürfte nicht von ungefähr kommen. Kroetzens Abdankungsstück von 1986 ist ein Plapperstück, seine Figuren haben aber dennoch jenen Hang zur emotionalen Emphase, der den Zombiefiguren folgender Autoren abgeht.

Nach solchen Bühnenfiguren diesseits der Zombiegrenze suchen die Theater allem Anschein nach, auch wenn ein Dramaturg wie Matthias Pees von der Berliner Volksbühne in der Herbstausgabe der Zweimonatsschrift Theater der Zeit mit dem Eingeständnis kokettierte, er wolle die Stapel neuer Stücke auf seinem Schreibtisch eigentlich nicht mehr lesen.

V.

Missing link in diesem Zusammenhang ist Werner Schwab, der parallel zu Kroetzens Abdankung die Autorenbühne betrat. Seine Stücke sind zumeist klaustrophobische Künstlerdramen, in denen nur ein einziges Thema verhandelt wird: der Künstler Werner Schwab, der sich aus kleinbürgerlicher Enge emporwinden will und doch immer ein kleinbürgerlich Leidender bleiben wird.

Wirkt Schwab in seinem grotesk überzeichneten Künstlerleid (zumal seit seinem Alkoholtod vor drei Jahren!) noch irgendwie authentisch, mutiert die entschlossene Künstlichkeit seiner Figuren in den Stücken anderer Autoren eben zum Zombieismus. Die zeitgenössischen Dramatiker haben entdeckt, daß Medienbilder und -meinungen manipulierbar sind, und tun nun so, als ob sich auch der Rezipient des Manipulierten nur noch gemäß geklonter Bilder, Satzhülsen und Gefühle verhalten könne. Womit sich die Theaterautoren natürlich um ihr eigenes Medium bringen. Denn wo alles nur noch Manipulation und dumpfer Reflex ist, kommt es auf individuelle Kommunikationsstrategien nicht mehr an. Die aber machen nun mal das Schauspiel aus, machen einen Text zu einer Rolle, die, von einem Schauspieler ausgefüllt, sich auf der Bühne anzusehen lohnt.

VI.

Betrachtet man die neuen Stücke unter diesem Gesichtspunkt, fallen verschiedene Fluchtlinien auf.

Zum einen der Sturz in post- schwabsche Familiengrotesken inklusive dem Hang, mit Hilfe von Comic- und Slapstickmitteln dem Film und Fernsehen Konkurrenz zu machen. Daß das nicht funktioniert, konnte man an Wilfried Happels (32) „Mordslust“ sehen, das Anfang letzten Jahres von Torsten Fischer in Köln uraufgeführt wurde. Frei nach dem Kochrezept: Man nehme Vater, Mutter, Sohn, Schwiegertochter, Großeltern, und schon kann die Familiengaudi losgehen, schrammten Stück und Inszenierung munter dem Prädikat „Radikalgroteske“ entgegen.

Etwas verfeinerter und in ihrer Virtualität noch überspannter kommen imaginäre Welten daher, wie Simone Schneider (33) sie in „Orwell“ konstruierte. Armin Petras brachte das im Mai letzten Jahres in Mannheim zur Uraufführung, alle Figuren bewegten sich genau konstruiert in einem mit äußerstem Stilwillen gestalteten Kunstraum. In dieser Reihe steht auch „Foraminifere“ von Alexander Müller-Elmau, seines Zeichens Bühnenbildner von Hans-Ulrich Becker, der denn auch brav das Stück seines Bühnenbildners auf die Bühne brachte. Wie Schneider, die sich in eine geklonte Orwell- Welt des nächsten Jahrtausends phantasiert, bewegt Müller-Elmau sich in die Zukunft einer entropierten Unterwasserwelt. Wer Dialoge hören will, wird enttäuscht, man fragt sich bei solchen Stücken, ob sie als Hörspiele nicht besser wären. Was auch für Tim Krohns Stück „Die apokalyptische Show von den vier Flüssen Manhattans“ gilt, das im März 1995 in Darmstadt nur deshalb das Licht der Bühne erblickte, auf daß es fortan dort nicht mehr gesehen werde.

Eine auf den ersten Blick raffiniertere Variante des neuen Zombiespiels auf deutschen Bühnen, die allerdings auch nicht weit führt: Die Virtualität des Theater- und Kulturbetriebs selbst in den Blick zu nehmen. Den jüngsten Versuch in diese Richtung unternahm Helmut Krausser (32), der nach seinem aufsehenerregenden Debüt mit „Lederfresse“ gerade mit seinem Zweitling in Darmstadt strandete. „Spät Weit Weg“ heißt der Jux, den er sich machte. Ernsthaft ein Theaterstück wollte er nicht schreiben und auf keinen Fall Konfliktpotentiale dialogisch gestalten.

VII.

Auch interessant in diesem Zusammenhang, aber keineswegs als Fluchtbewegung zu verstehen: Christoph Marthaler. Sein Siegeszug im deutschen Stadttheater ist unter anderem auch dadurch zu erklären, daß er auf nonverbaler Ebene genau das liefert, was viele Theaterautoren dialogisch nicht mehr zu liefern bereit sind. All das zum Beispiel, was sich zwischen Menschen abspielt, die sich auf der Straße begegnen, ihre Sprachlosigkeit und daß sie dann doch plötzlich munter drauflosplappern (bei Marthaler singen sie), um unter der Hand denn doch zu offenbaren, was sie im Innersten bewegt.

Dafür einen dialogischen Ausdruck zu finden will heute anscheinend nicht mehr gelingen. Nicht verwunderlich also, daß die stärksten Theatertexte der letzten Jahre fast ausschließlich Bühnenmonologe waren, in denen ein Schauspieler eine einzige Bühnenfigur als Bündel aus Sprache, Verkümmerungen, Leidenschaften und unterschwelligen Absichten vorführen konnte. Man denke an Rainald Goetz' „Katarakt“, Klaus Pohls „Selbstmord in Madrid“ und Herbert Achternbuschs „Meine Grabinschrift“.